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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Packung mit Disketten, die heute früh noch unversehrt gewesen war, zwei fehlten. Mallory hatte sich vor ihrem Ausbruch also noch die Zeit genommen, die Dateien aus dem Computer des Sheriffs herunterzuladen.

9
    Mit dem Tod hatte Ira Wooley keine Probleme, sofern die Toten in bereits vorhandene Gräber zur ewigen Ruhe gebettet wurden. Kam ein neues Grab hinzu, musste er sich den ganzen Friedhof noch einmal komplett vor Augen führen, aber das war selten. Weil sich so wenig änderte, hielt er sich gern hier auf. Die Menschen waren stumm, ihre Grabmäler und steinernen Häuser von Bestand. Jetzt aber waren die Blumengebinde entfernt, die Angehörige und Freunde zu Allerheiligen auf die Gräber gelegt hatten, und als er durch die Reihen schritt, musste er sich im Kopf diese Stadt der Toten neu zurechtdenken.
    »Hallo, Ira«, sagte jemand hinter ihm.
    Als er sich erschrocken umdrehte, sah er an der Baumreihe, die den Friedhof begrenzte, eine hoch gewachsene Gestalt stehen. Er erkannte den Sandwich-Mann aus Jane’s Café, der jetzt mit langen Schritten näher kam. Ira bekam es immer mehr mit der Angst zu tun. Der Sandwich-Mann lächelte, aber Ira konnte nicht unterscheiden, ob ein Gesicht Liebe oder Zorn signalisierte – das war eine Sprache, die er nicht verstand. Der Sandwich-Mann schien begriffen zu haben, dass Bewegungen auf Ira bedrohlich wirkten, und blieb stehen.
    Iras Atem und Herzschlag beruhigten sich, aber schon kam eine neue Verwirrung auf ihn zu. Der große Mann bedeutete Veränderung auf dem Friedhof. Langsam drehte sich Ira um die eigene Achse, ließ den Blick über Erde, Grabmäler und Bäume schweifen und machte abermals Bestandsaufnahme. Charles Butler spielte geduldig Standbild, bis Ira alle Gegenstände in ein neues Schema eingeordnet hatte, zu dem nun auch sein Sandwich-Mann gehörte.
    Jetzt öffnete der Mann wieder den Mund, aber Ira nahm zunächst keine Worte, sondern nur Geräusche wahr, denn seine Angst hatte sich noch nicht ganz gelegt.
    »Weißt du noch, wer ich bin? Charles Butler …«
    »Weißt du noch, wer ich bin«, wiederholte Ira monoton.
    »Ich würde dich gern fragen, was mit deinen Händen passiert ist – oder macht dich das nervös?«
    »Macht dich das nervös«, sagte Ira, und dann tauchten aus den Geräuschen ein paar Worte auf. Seine Hände … nervös … Er besah sich die Verbände. Wieso sollten seine Hände ihn nervös machen?
    Der Mann sprach weiter, aber jetzt hörte Ira wieder nur Geräusche, die so unverständlich waren wie der Wind in den Bäumen, der melodische Ruf der Vögel und das Sirren von Insekten. Alle Geräusche des Friedhofs verschmolzen zu einem einzigen. Ira konzentrierte sich auf seine Verbände und verdrängte alle Laute, bis sie nur noch ein friedliches weißes Rauschen waren.
    Doch dann wurden die Worte lauter, drängender. Ira stieß ein verzweifeltes »Ja, ja, ja, ja, ja« hervor – so lange, bis der Sandwich-Mann begriffen hatte, dass »Ja!« soviel hieß wie »Sei still!«, und endlich schwieg. Wieder brachte Ira den hoch gewachsenen Fremden so weit, dass er regungslos dastand und die Augen niederschlug. Charles hatte sehr rasch begriffen, dass der Junge direkte Blicke nicht vertrug. Fasziniert sah Ira einem Wassertropfen zu, der langsam vom Blatt eines Strauchs rollte. Wie in Trance starrte er auf den Tropfen, der immer länger wurde, dann vom Blatt fiel und im freien Fall zu einer vollkommenen kleinen Kugel wurde. Als der Tropfen leise platschend auf dem Boden gelandet war, sah er auf wie ein Erwachender.
    Der Sandwich-Mann saß so reglos neben ihm, als sei er Teil der Landschaft geworden. Und jetzt konnten sie reden.
    »Du hast fünf Töne auf dem Klavier gespielt, und das hat Babe missfallen.«
    »Hat Babe missfallen«, sagte Ira.
    »Kannst du mir sagen, warum?«
    »Sagen, warum.« Ira wiegte sich vor und zurück, dann fing er an zu summen. Babe hatte ihm die Hände gebrochen, aber zum Summen brauchte er die nicht. Das Summen beruhigte ihn und nahm ihm ein wenig die Angst vor der neuen Stimme, auf die er nicht gefasst gewesen war. Jane’s Café machte ihm keine Angst, weil er dort täglich aß und die Mutter an seiner Seite hatte. Jetzt aber war er mit diesem großen Sandwich-Mann allein, und das war nicht in Ordnung.
    Doch der Mann schien bedeutend mehr Verständnis für ihn zu haben, als er es sonst von seiner Umwelt gewöhnt war. Er war geduldig und sprach mit ruhiger Stimme, als er weitere Fragen wegen Babe stellte.
    Babe war gefährlich.

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