Der steinerne Engel
Blau und sonst nichts, sollte das heißen, mehr weiß ich nicht.
»Wie viele, Ira? Wie viele haben die Steine geworfen?«
Sie wiederholte die Frage immer wieder. Fünfzigmal umrundeten sie den Engel, immer war sie dicht hinter ihm. »Wie viele«, fragte sie ein ums andere Mal. In alle Ewigkeit würde sie so weiterfragen. Schneller und schneller kreisten seine Hände umeinander.
»Wie viele?«
»Siebenundzwanzig Leute. Achtzehn Steine.« Er war sich seiner Sache völlig sicher, dazu brauchte er nur auf den Fernsehschirm in seinem Kopf zu sehen, auf dem die Szene immer wieder ablief, jeder Stein, jede einzelne Gestalt in der Menge in einer anderen Farbe, alles umwabert von einer Aura gewalttätiger Energie.
Er ging zu dem Standbild des Engels, legte die Arme um die Figur und schlug mit der Stirn gegen den Stein. Er wollte, dass es wehtat, spürte aber nichts. Sie zog ihn weg und legte eine weiche Hand an die Stelle, wo es rot herabtropfte.
»Sie war ganz rot«, sagte er und sah Dr. Cass in dieser Farbe vor sich.
»Ich weiß, Ira. Ich habe sie auch gesehen. Ganz rot.«
Sie nahm ihre Hand weg und ließ sich ins Gras sinken. Wenig später setzte er sich in einiger Entfernung zu ihr. Sie hatte sein Taschentuch in der Hand, das sie ihm aus der Hosentasche gezogen hatte und das rot von seinem Blut war. Er begegnete ihrem Blick – aber nur einmal und mehr zufällig. Sie summte ein altes Wiegenlied. Er kannte es gut. Er wiegte sich im Takt, und sie wiegte sich mit ihm. Das war etwas sehr Vertrautes, sehr Schönes, das er sorgsam in seinem Gedächtnis aufbewahrt hatte.
Er ließ die Bilder von einem kleinen Mädchen ablaufen, das seine Lieder mitgesummt hatte, während sie nebeneinander hergegangen waren. Die Kleine war seine einzige Freundin gewesen, das einzige Kind, das ihn nie gequält hatte.
Seine Spielgefährtin.
Er legte den Kopf zurück und sah, ruhiger geworden, zu den Wolken hinauf. »Kathy.«
»Ja, Ira?«
»Kathy.« Mehr sagte er nicht, aber das war sehr viel. Er sagte es voller Liebe.
10
An den Fenstern hingen keine Vorhänge. Man hatte ihm gesagt, das Haus stehe leer, aber Charles Butler überlegte, ob er da vielleicht etwas missverstanden hatte. War nicht der Hund ein Beweis dafür, dass hier Menschen lebten?
Der schwarze Labrador war von hinten gekommen. Er hinkte stark. Einige seiner Schneidezähne waren abgebrochen, andere fehlten ganz. Vertrocknete Hautfetzen hingen von der grauen Schnauze und den Ohren. Der Hund sah Charles nicht gerade an. Weil ein Auge trüb vom grauen Star war, musste er den Kopf schief legen, um den Besucher zu erkennen.
Vielleicht war es nur ein Streuner. Oder war das Augusta Trebecs Vorstellung von einem Wachhund?
Charles hatte etwas dagegen, menschliche Emotionen auf Tiere zu projizieren, aber in diesem Moment hatte er tatsächlich das Gefühl, dass der Hund enttäuscht war. Er ließ den schweren schwarzen Kopf hängen, hinkte zurück in Richtung Haus und verschwand im Garten zwischen den Büschen.
Charles sah auf die Uhr. In einer Viertelstunde würde Henry Roth, wenn er pünktlich war, mit den Schlüsseln auftauchen.
Er trat einen Schritt zurück, um die kunstvollen Schnitzereien auf der Veranda der viktorianischen Villa zu bewundern. Die Fenster der Turmzimmer rechts und links hatten Kathedralglasscheiben. Während Augusta ihr eigenes Haus sichtbar vernachlässigte, hatte sie weder Kosten noch Mühe gescheut, hier alles in Ordnung zu halten. Das rote Schindeldach war ganz neu, die Außenwände waren in einem sanften Blaugrau frisch gestrichen.
Charles ging die Stufen zum Eingang hinauf und drehte den Türknauf. Das Haus war nicht abgeschlossen. Demnach war Henry Roth früher als verabredet gekommen und hatte die Tür für ihn aufgelassen. Er betrat die mit Parkett ausgelegte Diele und rief: »Hallo! Mr. Roth?«
Keine Antwort.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen. Die Doppeltür führte wahrscheinlich in den Salon. Er versuchte, sich die Bauweise jener vergangenen Zeit in Erinnerung zu rufen. Am anderen Ende der Diele musste es eine schmale Dienstbotentreppe geben, die von der Küche zu den Dachkammern führte. Er öffnete die letzte Tür, die von der Diele abging, und betrat ein enges, stickiges Treppenhaus. Durch ein Fenster im ersten Stock fiel reichlich Licht, sodass er keine Mühe hatte, den Weg zum Dachboden zu finden. Er konnte nur hoffen, dass dort die Tür ebenfalls unverschlossen war.
Auch im obersten Stockwerk fiel Licht durch ein Fenster. Er sah,
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