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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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dass die Tür zum Dachboden offen stand, und trat ein. Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, stellte er fest, dass alle Dachfenster bis auf eins mit Koffern und Möbeln verstellt waren. Er drehte sich um. Auf dem dunklen Holzboden zeichneten sich seine Fußabdrücke ab. Die persönlichen Unterlagen von Cass Shelley schienen unberührt zu sein. Sie waren in gestapelten Plastikboxen untergebracht, die mit sorgfältig beschrifteten Etiketten gekennzeichnet waren. Neben dem Stapel stand eine Arzttasche.
    Er wischte den Staub von einer Box mit der Aufschrift »Geschäftskorrespondenz«. Durch das transparente Material erkannte er Briefe, die kaum vergilbt waren. Er öffnete die Schachtel und hielt den ersten Brief an das freie Fenster. Er war an Cass Shelley, Ärztin und Gesundheitsbeamtin des Ortes, gerichtet. Weiter unten fand er ihre Krankenblätter. Zwanzig Minuten später las er fasziniert ihre Aufzeichnungen über Ira Wooley. Cass Shelley hatte den Jungen vom zweiten Lebensjahr an genau beobachtet und ausführlich und in fast poetischem Ton seine Talente beschrieben. In jeder Zeile schwang größte Hochachtung vor dem Kind, das sie seit seiner Geburt behandelte.
    Dr. Shelleys Terminkalender fand sich nicht in einer der Boxen, sondern in einer Plastiktüte mit einem Etikett, das ihn als Beweisstück auswies. Als Charles den Kalender aufschlug, fand er darin den vergilbten Durchschlag einer Quittung, die von Augusta Trebec, der Testamentsvollstreckerin, unterschrieben war. Der letzte Eintrag war vor siebzehn Jahren vorgenommen worden, an Cass Shelleys Todestag. Die Ärztin hatte den sechsjährigen Ira erwartet – aber nicht zu einer ärztlichen Behandlung, sondern zu einer Klavierstunde. Demnach hatte ihm Cass Shelley das Klavierspielen beigebracht.
    Hatte womöglich Ira den Mord mit angesehen?
    Das wäre eine Erklärung für den Stillstand in seiner Entwicklung, denn nach siebzehn Jahren Therapie hätte er eigentlich besser sprechen müssen, auch wenn er seine erste Betreuerin verloren hatte und das vermutlich eine traumatische Erfahrung für ihn gewesen war.
    Charles hatte jetzt die Quittung des Sheriffs in der Hand. Auch Jessop musste dieser Verdacht gekommen sein. Hatte er den Jungen vernommen? Möglicherweise hatte er damit bei allem guten Willen nur noch mehr Schaden angerichtet.
    All diese Überlegungen beschäftigten ihn so sehr, dass er die Schritte erst in nächster Nähe wahrnahm. Das musste Henry Roth sein. Er wandte sich um. Aber statt in das Gesicht des Künstlers sah er in den Lauf einer Schusswaffe. Er regte sich nicht und wagte kaum zu atmen, bis sich die Augen des Sheriffs an das diffuse Licht gewöhnt hatten und er die Waffe wieder ins Halfter steckte.
    »Guten Tag, Mr. Butler.«
    »Ich habe eine Genehmigung von Augusta Trebec …«Charles griff in die Jackentasche.
    »Nicht nötig. Tut mir Leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
    Das klang ehrlich bedauernd – und erleichtert. Der Sheriff brachte sogar so was wie ein Lächeln zustande, das jäh verschwand, als er den Terminkalender in Charles Butlers Hand erkannte. Er straffte sich, als müsste er sich gegen einen Schlag wappnen.
    »Ich hatte Henry Roth erwartet«, sagte Charles. »Wir waren hier verabredet.«
    »Wahrscheinlich ist er noch im Garten und füttert den Hund, das macht er jeden Tag.« Der Sheriff betrachtete die gestapelten Boxen und schien zu überlegen, von welchen ihm womöglich weiterer Ärger drohte.
    Charles erhob sich und staubte mit der freien Hand seine Hosenbeine ab. »Sie haben mich also für einen Einbrecher gehalten?«
    »Das Licht ist hier miserabel. Zuerst habe ich nur einen Schatten gesehen, der sich über die Boxen beugte.« Der Sheriff deutete auf den Kalender. »Haben Sie was Interessantes gefunden?«
    »Ich weiß inzwischen, dass Ira an dem Tag, an dem Cass Shelley starb, zu einer Klavierstunde zu ihr kommen sollte. Vermutlich war das Teil von Iras Verhaltenstherapie.«
    »Sie brauchen diese Sache nicht unbedingt Dritten gegenüber zu erwähnen.«
    »Weiß seine Mutter Bescheid?«
    »Mit Darlene hab ich nie darüber gesprochen. Damals lebte ihr Mann noch, den hab ich danach gefragt. Er habe die Klavierstunde abgesagt, weil er sich mit Cass überworfen hätte, hat er mir erzählt, er wollte sich einen anderen Arzt suchen.«
    »Cass Shelley hat allerdings, im Gegensatz zu anderen Terminen, die Absage nicht vermerkt. Sie haben also Darlene nie gefragt, ob …«
    »Darlene gegenüber brauchen Sie

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