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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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Von seiner Mutter hatte Ira erfahren, dass Babe tot war, aber einen toten Babe konnte Ira sich nicht vorstellen, und er hatte auch noch keinen Stein für ihn auf dem Friedhof gesehen.
    Ira war jetzt bereit, mit dem Sandwich-Mann zu kommunizieren, wusste aber nicht recht, wie er es anstellen sollte. Dann fiel ihm eine Lektion ein, die er vor Jahren an einem sonnigen Morgen in der Küche erhalten hatte. Er erinnerte sich noch genau an das Lichterspiel an der Wand, das Muster der Vorhänge, das sich darauf abzeichnete. Dann war sein Blick zum Herd weitergewandert, und er hatte eine Hand nach der Herdplatte ausgestreckt. Seine Mutter hatte ihn zurückgehalten und ihn in ihrer Sorge streng ermahnt. Diese Worte fielen ihm jetzt wieder ein, und er gab sie an den Sandwich-Mann weiter. »Verbrenn dich nicht.«
    Das Gesicht des Mannes veränderte sich, und er senkte den Kopf noch tiefer. Ira spürte seine Traurigkeit, als er aufstand. »Auf Wiedersehen«, sagte Charles Butler leise und ging mit gesenktem Blick über den Kiesweg davon.
    »Auf Wiedersehen«, kam es als Echo von Ira.
    Sekunden später hörte er wieder ein Geräusch, das nicht hierher gehörte: Schritte, die so leicht und leise waren wie die einer Katze. Langsam und widerstrebend drehte er sich um.
    Das ist doch unmöglich … Er setzte sich rasch ins Gras, weil ihm die Knie einzuknicken drohten.
    Es war Dr. Cass.
    Aber sie war wieder heil und ganz und ohne Blut. Das beschäftigte ihn eine ganze Weile. Er bemühte sich sehr, das anzuwenden, was er gelernt hatte, und die in seinem Gedächtnis gespeicherten Bilder in die richtige chronologische Reihenfolge zu bringen.
    Cass Shelley war tot. Er war bei der Beerdigung gewesen.
    Diese Erinnerung folgte unmittelbar auf die Erinnerung an die fliegenden Steine, die Wunden, das Blut, an Augen, die sich endgültig schlossen. Die Frau vor ihm konnte nicht Dr. Cass sein.
    »Wer«, sagte Ira tonlos. Sie kam auf ihn zu und sah ihn an. In seiner Angst wusste er nicht mehr, was das Wort bedeutete. Als er es wiederholte, war es für ihn so sinnlos wie der Schrei einer Eule. »Wer.«
    Die Frau kniete sich neben ihn und hob die Hände. Sie wollte ihn anfassen! Er wich zurück. Nein, nein, das ist zu viel! Nein! Nicht anfassen! Bitte nein …
    Sie hatte ihn an den Schultern gepackt. Sein Körper versteifte sich, er verdrehte die Augen, wollte schreien. Ihr Blick machte ihm Angst.
    »Ich weiß, dass du das nicht haben willst«, sagte sie so sanft und leise, dass es sich fast anhörte wie Musik. »Aber du musst dich jetzt konzentrieren, es ist wichtig für mich. Du hast es für meine Mutter getan, jetzt musst du es für mich tun.«
    Die Worte ergaben keinen Sinn. Er hatte panische Angst. Er hätte die Frau gern unbeobachtet betrachtet, und tatsächlich senkte sie den Blick, um ihm das zu ermöglichen. Doch seine Angst vor ihr war noch so groß, dass er sie wie in einem grellen wabernden Licht sah. Der Eindruck drohte seine Sinne zu überfordern. Die Sonne fing sich in ihrem Haar und setzte es in Brand. Die roten Lippen öffneten sich, gaben die beiden makellosen Zahnreihen frei.
    »Ich weiß, dass du das Lied auf dem Plattenspieler gehört hast, Ira«, sagte sie jetzt.
    Lied?
    Er lauschte eine Weile ihrer Stimme, als sei es Musik. Er hätte nicht wiedergeben können, was sie zu ihm sagte. Doch allmählich drang die Bedeutung ihrer Worte in sein Bewusstsein. Immer und immer wieder dieselbe Weise. »Was hast du gesehen?«
    Er sah die Worte als tanzende Luftschwingungen vor sich. Er sah die Steine, die das Gesicht von Dr. Cass trafen, und die Steine, bei deren Anprall ihr Körper sich krümmte. Er nickte und sagte: »Was hast du gesehen.« Ja, er war da gewesen, er hatte es gesehen. »Was hast du gesehen«, sagte er und nickte wieder. Sie ließ ihn los. Er stand auf und ging unruhig im Kreis herum.
    Sie folgte ihm, ein goldener, energiegeladener Schatten. Er sah zum Himmel auf, weil er den Anblick der Frau und so viel Vitalität nicht ertragen konnte. Seine Hände drehten sich flattrig umeinander, er atmete rasch und flach, er war am Ersticken.
    »Was hast du gesehen?«
    »Sie war rot«, stieß er hervor und sah, wie seine Worte in allen Regenbogenfarben zu schillern begannen. »Kein Lärm mehr – der Hund hat geweint.« Der zweite Satz kam ruhiger heraus, war steingrau. »Der Brief war blau.« Die letzten Worte waren stumpfe Kiesel, die zu Füßen der Frau dumpf zu Boden fielen.
    »Der Brief?«
    »Blau.« Er schüttelte den Kopf.

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