Der steinerne Kreis
sie mehrere Minuten, bis sie die Sprache wiederfand.
»Warum erzählen Sie mir das alles?«, fragte sie schließlich.
Langlois hob erstaunt die Brauen. »Weil Sie von der Geschichte doch direkt betroffen sind! Wenn schon nicht mit Mord, haben wir es immerhin mit unerlaubter Ausübung ärztlicher Praktiken und illegalem Eindringen in einen nicht frei zugänglichen Bereich der Klinik zu tun, zweifellos auch unter Vorgabe einer falschen Identität …« Er hob den Zeigefinger. »Abgesehen davon sind Sie unsere Hauptzeugin.«
Diane war inzwischen ruhiger geworden und fühlte sich stark genug, um zu erklären: »Sie verstehen mich nicht. Dieser Mann – egal, wer er war, egal, welche Beweggründe er hatte – hat meinem Sohn das Leben gerettet. Nebenbei auch das meine. Deswegen ist mir die angewandte Methode ziemlich egal. Im Moment tut mir nur leid, dass ich ihm nicht danken kann, verstehen Sie? Und ich glaube nicht, dass Ihre Ermittlungen, egal, welches Ergebnis sie haben, daran etwas ändern werden.«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte Langlois: »Sie verstehen sehr gut, was ich sagen will. An dieser Sache ist mehreres rätselhaft. Meiner Ansicht nach hat der Fall überhaupt erst angefangen. Im Übrigen habe ich …«
Das schrille Signal eines Piepsers ertönte. Der Inspektor hakte ein winziges Gerät von seinem Gürtel und las die Meldung auf dem Display. Dann zeigte er Diane die Nachricht und murmelte: »Na bitte, was hab ich gesagt?«
KAPITEL 14
Diane wusste, dass es sich um reale Ereignisse handelte, doch sie nahm das Geschehen mit einer Ungläubigkeit zur Kenntnis, die den Vorteil hatte, dass sie Distanz wahren konnte und sich von der Verrücktheit nicht anstecken ließ. Später würde sie Ordnung schaffen, würde versuchen, eine Logik zu erkennen. Vorläufig registrierte sie alle Umstände, alle Informationen mit dem Abstand und der Machtlosigkeit einer Träumenden.
Langlois führte sie ins Lavoisier-Gebäude zurück. Diesmal blieben sie im Erdgeschoss. Diane erkannte sofort den Saal wieder, auf den sie zugingen, den Raum für CT-Untersuchungen: Hier hatte man Lucien den ersten Computertomografien unterzogen.
Vor der Tür blieb sie stehen – sie fürchtete sich vor den allzu schmerzhaften Erinnerungen, die dort drinnen über sie herfallen würden. Doch der Inspektor schob sie kurzerhand über die Schwelle und schloss die Tür hinter ihnen. Die erwarteten Ängste blieben aus: Die Atmosphäre im Raum hatte sich dermaßen gewandelt, dass sie ihn kaum wiedererkannte.
Es herrschte eine ungewöhnliche Hektik. An der Bedienungskonsole, vor den Monitoren und Leuchtschirmen, saßen zwei Männer und gaben Befehle ein, woraufhin auf den Bildschirmen farbige Formen erschienen. Jenseits der Trennscheibe machten sich geschäftige Gestalten an der mächtigen CT-Röhre und chromblitzenden Apparaten zu schaffen. Andere zogen Stecker aus dem Boden, schalteten hängende Monitore ab, rückten seltsame Röhren und Sichtgeräte zurecht. Anscheinend waren sie damit beschäftigt, die Spuren ihrer Tätigkeit zu beseitigen.
Einen weißen Kittel trug niemand.
Doch das war nicht das einzig Ungewöhnliche. Die Männer schienen alle recht jung, unter dreißig, und die meisten trugen in einem Gürtelhalfter mit Klettverschluss eine Automatikpistole.
Polizisten.
Jetzt war ihr klar, warum man sie im zweiten Stock des Gebäudes hatte warten lassen: Die Polizei hatte sich hier ihr Hauptquartier eingerichtet. Und für ein paar Stunden hatten sie sich die medizinische Aufnahmetechnik ausgeliehen.
»Paläopathologie: Wissen Sie, was das ist?«, fragte Langlois unvermittelt.
Diane drehte sich zu ihm und antwortete müde: »Das ist ein Verfahren aus der Archäologie; dabei wird eine Mumie oder sonstiges organisches Material mit einem CT-Scanner, einem Kernspinresonanz-Tomografen oder irgendeinem anderen Abbildungsverfahren untersucht, um die inneren Bestandteile zu analysieren, ohne sie zu zerstören. Damit ist es heute möglich, eine virtuelle Autopsie an jahrtausendealten Leichen durchzuführen.«
Langlois lächelte. »Sie kennen sich ja bestens aus«, sagte er anerkennend.
»Ich bin Wissenschaftlerin. Ich lese die Fachpresse. Aber ich verstehe nicht …«
»In unserer gerichtsmedizinischen Abteilung haben wir einen Crack auf diesem Gebiet. Ein kleines Genie, das in der Lage ist, eine Mumie zu untersuchen, ohne auch nur einen Finger auszuwickeln.«
Diane warf einen bestürzten Blick durch die Glasscheibe und
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