Der steinerne Kreis
Verzweigungen ähnelte es einem Korallenriff. Ein Gestrüpp der Gewalt.
Mit heiserer Stimme fragte Langlois: »Wie bringt man so was fertig?«
Die Stimme des Gerichtsmediziners veränderte sich, als käme sie aus weiter Ferne: der Tonfall des kühlen Analytikers.
»Physiologisch ist das ziemlich einfach«, erklärte er. »Man muss nur die Aorta abklemmen, zum Beispiel indem man sie knickt wie einen Gartenschlauch, damit sie das Blut nicht mehr aus dem Herzen abtransportieren kann, während durch die Hohl- und Lungenvenen immer mehr Blut herbeiströmt, bis das Fassungsvermögen überschritten ist.«
Er gab einen weiteren Befehl ein. Auf dem Bildschirm erschienen wieder die übrigen inneren Organe und die Adern des Blutkreislaufs.
»Hier sieht man ganz deutlich die Torsion der Aorta.« Er klickte auf eine Stelle und hob sie in Vergrößerung hervor. »Und hier.«
Langlois war skeptisch: »Und wie hat man Zugang zu dieser Arterie, innerhalb des Körpers?«
Der Gerichtsmediziner wandte sich vom Bildschirm ab und verschränkte die Arme, wie um den Abscheu und das Grauen abzuwehren, das der Gedanke ihm einflößte.
»Das ist das Abartigste daran«, sagte er. »Der Mörder hat die Hand in den Bauch des Opfers geschoben und sich durch die Eingeweide bis zur Aorta vorgearbeitet.«
Er drehte sich zum Bildschirm und gab einen neuen Befehl ein, woraufhin sich van Kaens Rumpf wieder zusammensetzte und unter grauem Fleisch die inneren Organe sichtbar wurden. Der Gerichtsmediziner klickte auf das Brustbein am oberen Ende des Bauchraums und vergrößerte den Bildausschnitt. Ein haarfeiner Einschnitt wurde sichtbar.
»Hier, das ist die Wunde«, sagte er. »Sie ist so unauffällig und unter der Behaarung so gut verborgen, dass wir sie bei der äußeren Untersuchung gar nicht bemerkt hatten.«
»Durch diesen Schlitz hat der Mörder die Hand hineingeschoben?«
»Zweifellos. Die Wunde ist nicht breiter als zehn Zentimeter. Wenn wir bedenken, wie dehnbar die Haut ist, reicht das ohne weiteres für einen Arm. Vorausgesetzt, der Mensch ist zierlich und eher klein. Ungefähr eins sechzig, würde ich sagen.«
»Aber van Kaen war ein Riese!«
»Vielleicht waren es mehrere. Oder das Opfer stand unter Drogen. Was weiß ich.«
Den Blick auf den Bildschirm geheftet, fragte Patrick Langlois: »Und der Mann war lebendig, während ihm der Bauch aufgeschlitzt wurde, oder?«
»Lebendig und bei Bewusstsein, ja. Das beweist das geplatzte Herz. Während der Mörder in den Eingeweiden herumgewühlt hat, fing das Herz an zu rasen und pumpte entsprechend mehr Blut. Die Sättigung war bald erreicht und bewirkte eine sehr heftige Explosion.«
»Ich hatte ja schon mit Unannehmlichkeiten gerechnet, aber eine Sache von diesem Kaliber …«
Erst jetzt schienen sich die beiden Männer der Anwesenheit der jungen Frau bewusst zu werden, beide im selben Moment; beinahe gleichzeitig drehten sie sich zu ihr um, und Langlois sagte: »Diane, es tut mir leid. Wirklich, wir … Diane? Alles in Ordnung?«
Wie versteinert starrten ihre Augen hinter den Brillengläsern auf den Monitor. Tonlos flüsterte sie: »Mein Sohn. Ich möchte meinen Sohn sehen.«
KAPITEL 15
Sie kannte diese Gärten wie ihre Träume. Als Kind hatte sie hier ganze Nachmittage verbracht, am Brunnen, ringsum die grünen Alleen. Trotzdem empfand sie keine besondere Nostalgie in den Jardins du Luxembourg – sie hatte lediglich das Gefühl, dass der Park ihr Frieden bescherte.
Mehr als achtundvierzig Stunden waren seit dem Wunder vergangen. Und die Anzeichen einer Remission hielten an. Am Tag zuvor hatte das Kind mehrmals Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand bewegt. Diane hätte sogar geschworen, dass sich in ihrer Anwesenheit seine rechte Hand gehoben hatte. Die ärztlichen Untersuchungen hatten ergeben, dass der Hirndruck sank und das Odem sich zurückbildete. Und die Körperfunktionen normalisierten sich allmählich. Sogar Doktor Daguerre war bereit einzuräumen, dass sich tatsächlich ein Erwachen aus dem Koma ankündigte. Er meinte, möglicherweise könnten in den nächsten Tagen sogar die Dränagen entfernt werden.
Diane hätte jubeln müssen vor Glück. Aber da waren dieser Mord, die unerklärliche Gewalttätigkeit, diese niederschmetternden Bilder auf dem Monitor. Wie konnte eine derartige Grausamkeit möglich sein? Warum hatte der Mann, der ihren Sohn gerettet hatte, unter solchen Umständen sterben müssen, nur ein paar Stunden nach seinem segensreichen
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