Der Stern des Untergangs
…
»Nein!« keuchte sie laut. »Urrim – sieh mich an! Du willst doch nicht, dass sie dich umbringen, oder? Sag mir, dass du es nicht willst! Und bei den Göttern, ich werde es nicht zulassen!«
Urrims Augen weiteten sich plötzlich, und etwas geschah mit ihm – wie ein Kind aus langem Schlaf oder wie ein Kranker aus tiefer Bewusstlosigkeit schien er zu erwachen.
Im gleichen Augenblick erhob sich fern über dem Sumpf ein blaues Glühen. Sonja sah es sofort. Der Anblick und das, was davon ausging, schien sich ihr wie eine eisige Hand ums Herz zu legen. Sie starrte in den Sumpfwald, und rasch verbreitete sich das blaue Glühen. Erschrocken holte sie Luft, Furcht und Erstaunen erfüllten sie – denn es war dasselbe blaue Glühen, hauchzart und unirdisch, das ihr in jener Nacht erschienen war, vor vielen Jahren, als sie miterleben musste, wie die Familie vor ihren Augen niedergemetzelt wurde, wie man ihr selbst Gewalt antat und sie vor dem brennenden Haus zum Sterben liegenließ …
Dasselbe blaue Glühen.
Urrims Lippen öffneten sich. »Ich verstehe, Sonja.« Klar und fast mechanisch kamen die Worte. »Vertrau mir! Ich verstehe, was geschieht – und alles, was bisher geschehen ist.«
»Urrim? Was …?«
Immer noch hing dieses blaue Glühen über dem Sumpf und verstärkte sich weiter, bis die ganze Luft davon erfüllt war. Fern, im Herzen dieses Leuchtens, erschien das Bild -Mann-Frau-Wesen-Gott-Göttin-Geschick, was immer es auch war –, das damals Sonjas Schicksal geformt oder sie zumindest darauf aufmerksam gemacht hatte. Es sprach nicht; dafür tat es Urrim, während Sonja erstaunt lauschte und sich fragte, was die Welt dazu bewegt hatte, sich wieder auf den Kopf zu stellen.
»Ja, ich verstehe alles über die Zikkurat und diese Sumpfhexe und das andere. Ihr müsst zulassen, dass sie mich von dieser Lebensform befreien, Sonja. Denn wir alle sind lediglich Bruchstücke des großen Ganzen – Ihr und ich, diese Hexe, selbst der wahnsinnige Thotas mit seinen Träumen von absoluter Macht und Weltbeherrschung. Ja, sogar dieser Stern ist ein Teil des großen Ganzen. Also fürchte nicht für mich! Ich bin ...«
»Urrim, das ist Wahnsinn – ausgesprochener Wahnsinn. Sie bewirken einen Zauber!«
Doch während sie dies sagte, wurde ihr Blick wieder auf jene glühende Gestalt gezogen, ihr Schicksal, fern in der Mitte des Sumpfes, und doch ganz nahe …
»Ich bin ganz ich und war es immer. Vertraut mir! Sie bieten den Jenseitigen mein Leben nur für eine kurze Weile. Es ist nichts Böses, wenn sie diese Hülle für ihren Zweck benutzen, sondern ein Zauber, der mich befreien und Euch und ihnen beim Erreichen eines hehren Zieles helfen wird. Vertraut Daron, Sonja! Er ist nicht schlecht!«
Das blaue Glühen begann zu schwinden. Die Erscheinung in der Ferne schwand ebenfalls, und sie war es, die das Glühen mit sich nahm. Weiße Nebelschwaden erschienen statt dessen, wie sie über dem Sumpf üblich waren.
»Was – was bist du?« rief Sonja. »Bist du eine Gottheit? Oder – ich selbst? Erscheine wieder, in Mitras Namen!«
Urrim sickerte erneut der Speichel aus den Mundwinkeln, das blaue Glühen war verschwunden, und Sonja stand benommen und unsicher da, als erwachte sie aus einem Traum.
»Urrim!«
»Ich habe nicht … Die Pferde – schon gut, Sonja.«
Schritte hinter ihr ließen sie herumwirbeln. Sie zog ihr Schwert und hielt es blank und grau im Dämmerlicht des Sumpfes an der Seite bereit.
Daron und Osylla kamen näher. Daron trug eine Fackel.
»Welche Hexerei war das?« knurrte Sonja.
Osylla wirkte ehrlich verwundert. »Was wollt Ihr damit andeuten?«
»Hexe, Ihr wisst genau, was ich meine! Urrim spricht! Und dieses – dieses Glühen im Wald!«
Osylla runzelte die Stirn. »Wenn hier etwas geschehen ist, weiß ich zumindest nichts davon! Ich habe keine Ahnung …«
»Eine Lüge! Ihr lügt, Hexe!« Das Schwert zitterte in Sonjas Hand.
»Sonja! Wovon sprichst du?« fragte Daron scharf.
»Eine Frage, Daron. Und beantworte sie mir ehrlich, oder ich schwöre dir bei Erliks Rachen, dass mein Schwert dich durchbohren wird! Habt ihr, du und Osylla, gerade eine Hexerei in der Hütte gewirkt, die Urrim klar reden und ein blaues Glühen im Wald erscheinen ließ?«
Einen langen Moment starrte Daron ihr ins Gesicht. Ruhig antwortete er ihr: »Nein, Sonja. Glaub es oder glaub es nicht, wir wirkten keinen Zauber gegen dich oder Urrim.«
Sie blickte ihm in die Augen und hatte keine Wahl, als ihm zu
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