Der Stern von Yucatan
bleiben.”
“Wer war diese Freundin?”
“Elaine Wilson.”
“Tante Elaine?” Sie starb, als Lorraine neun war.
“Nach Elaines Tod fiel alles auseinander. Ginny schrieb, sie würde kommen, aber jedes Mal fand sie einen Vorwand, den Besuch zu verschieben. Schließlich hörten ihre Besuche ganz auf.”
“Hätten wir denn nicht nach Mexiko übersiedeln können? Dann wären wir drei zusammen gewesen.”
Er zögerte. “Ginny hatte Angst, dass sie nicht mehr zurückkehren könne, wenn sie das Land längere Zeit verlassen würde. Sie machte sich auch Sorgen um ihre Eltern und um dich. Deine Mutter liebte dich über alles, und sie wollte, dass du die bestmögliche Ausbildung erhältst und alle Vorteile genießen kannst, die Amerika zu bieten hat.”
“Aber sie hat mir gesagt, du seist tot.” Lorraine war nicht sicher, ob sie ihren Eltern diese Lüge je verzeihen konnte.
“Du warst ein Kind und noch viel zu klein, um die Last unseres Geheimnisses zu tragen.”
“Aber ich bin längst erwachsen. Es gab schon lange keinen Grund mehr, die Wahrheit vor mir zu verheimlichen”, beharrte sie. Virginia hätte ihr alles sagen, sie ihr eigenes Urteil fällen und ihre eigene Entscheidung treffen lassen müssen.
“Das alles ist meine Schuld, Raine.” Er hob eine Hand und streichelte ihr die Wange. “Ich war derjenige, der alles verdorben hat. Ich war in einen Sprengstoffanschlag verwickelt, der einen unschuldigen Mann das Leben kostete.”
“Aber ich hätte dich gebraucht”, widersprach Lorraine, mit den Tränen kämpfend.
“Ich habe dich auch gebraucht”, erwiderte er und nahm sie in die Arme. Lange hielten sie sich so fest.
Als er sie losließ, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und versuchte sich zu sammeln.
“Du musst erschöpft sein”, sagte er. “Und vermutlich bist du hungrig.”
Ihr Magenknurren erinnerte sie, dass sie, abgesehen von den Melonenstücken in Mérida, ihre letzte Mahlzeit an Bord des Flugzeuges gegessen hatte – Joghurt, eine Banane und ein altes Brötchen. Ihr Vater hatte recht, sie war ebenso müde wie hungrig.
Er nahm ihren Koffer und führte sie aus der Schule. Auf dem kurzen Weg zu seinem Haus erzählte Thomas ihr von seinem Leben in Mexiko. Bis vor neun Jahren hatte er an verschiedenen Orten im Land gejobbt und war nie lange geblieben. Dann hatte sich die Möglichkeit ergeben, an dieser Privatschule Biologie und Rechnen zu unterrichten, eine Arbeit, die ihm sehr viel Freude machte.
“Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich fand meine Berufung im Leben erst mit über vierzig.”
Lorraine merkte, dass es leicht war, diesen Mann zu mögen. Auch wenn er sich in seiner Jugend in militante Unternehmungen hatte verstricken lassen, die leider zu einem schrecklichen Ergebnis führten, so war er der Antikriegsbewegung jedoch aus noblen Motiven beigetreten. Er hatte seinen Fehler bitter bereut und war offenbar immer noch ein guter Mann, aber einer mit Selbsterkenntnis.
Lorraine war dankbar, ihn gefunden zu haben.
Es war ein Schock für Thomas gewesen, als Lorraine in El Mirador auftauchte, aber einer der glücklichsten Momente seines Lebens. Seine Tochter war genau so, wie er sie sich erträumt hatte: intelligent, hübsch, fürsorglich. Und sie ähnelte sehr ihrer Mutter.
Bei ihrem Anblick war er wie angewurzelt stehen geblieben, weil sie Ginny fast aufs Haar glich. Es war beinah wie ein Zeitsprung gewesen, als sehe er Ginny in jungen Jahren.
Die Nachricht vom Tode seiner Frau traf ihn hart. Er brauchte Zeit, das zu verwinden – Zeit und Einsamkeit, um zu trauern. Er hatte seiner geliebten Ginny längst verziehen, auch wenn sie ihm wehgetan und ihn desillusioniert hatte. Schließlich konnte er nicht ihr die Schuld an den tragischen Wendungen seines Lebens anlasten.
Sein Haus war sehr bescheiden, und Thomas hoffte, dass Lorraine verstand, wie arm man hier lebte. Die Schule konnte es sich nicht leisten, ihm ein üppiges Gehalt zu zahlen.
Antonio und Hector spielten im Vorhof. Unter normalen Umständen wären ihm seine Söhne entgegengelaufen, aber es waren schüchterne Jungs, und sie waren es nicht gewöhnt, ihn mit einer Fremden zu sehen. Sie verharrten und sahen sie neugierig an. Antonio presste einen Fußball an die Brust, als Thomas Lorraine die Tür öffnete.
Azucena war in der Küche und bereitete das Abendessen vor. Knoblauchgeruch durchzog das Haus. Thomas stellte Lorraines Koffer im Wohnzimmer ab und suchte nach einem Weg, seiner Tochter zu erklären, dass
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