Der Stern von Yucatan
Moment war sie jedoch zu hungrig für Gewissensbisse.
Unter Zuhilfenahme ihres nützlichen Sprachführers fragte sie eine großmütterliche Frau, wo sie einen Fahrer finden könnte, der sie nach Campeche brachte. Die Frau vermied Blickkontakt und schüttelte nur den Kopf. Sie erkundigte sich noch bei einem Verkäufer, doch der war weitaus mehr daran interessiert, ihr seine Waren anzudrehen, als eine Auskunft zu geben. Er hielt verschiedene Sachen hoch – Körbe und Steingut – und erklärte drei Mal in gebrochenem Englisch, dass er ihr einen Rabatt einräumen würde, weil sie seine erste Kundin heute sei.
Sie schaffte es, sich ihm zu entziehen und fragte eine dritte Person, eine junge, barfüßige Frau, die in Richtung der Cantina deutete.
Wenn sie es genau bedachte, war es vielleicht sinnvoller, sich sofort telefonisch an die amerikanische Botschaft zu wenden, als einen Fahrer zu suchen.
Sie blätterte ihr Wörterbuch durch, bis sie das Wort für Telefon fand. Es war ihr peinlich, wie wenig sie vom Sprachunterricht in der Schule behalten hatte. “Teléfono?”, fragte sie.
Die barfüßige Frau lächelte und nickte enthusiastisch und deutete wieder auf die Cantina.
Lorraine murmelte etwas vor sich hin und blickte zu dem Lokal hinüber, das sie meiden wollte. Aber vermutlich hatte sie nichts zu verlieren. Falls Jack zufällig dort war, was sie stark annahm, würde sie ihm einfach erklären, was sie auch auf den Zettel geschrieben hatte.
Als sie vorsichtig in die Cantina lugte, stellte sie zu ihrer Erleichterung und Verwunderung fest, dass Jack Keller nirgends zu sehen war. Das Lokal war völlig kahl, ohne jede Dekoration. Der Boden bestand aus groben Planken, es gab eine lange hölzerne Bar und eine Reihe rustikaler Tische und Stühle.
Vier oder fünf spärlich bekleidete Frauen starrten sie unfreundlich an, als sie eintrat. Lorraine nickte ihnen zu, um zu bekunden, dass sie von ihr nichts zu befürchten hatten. Sie beabsichtigte wahrhaftig nicht, ihnen ihr Geschäft zu schmälern.
Ein schmierig aussehender Mann blickte von einem Tisch auf, wo er mit einer Flasche Tequila und einem Glas saß. Er war ein hässlicher dunkler Typ mit einer Narbe quer über der Wange. Er betrachtete sie mit dem lebhaften Interesse, das die Katze der Maus entgegenbringt. Das war kein angenehmes Gefühl, doch sie ignorierte ihn. Stattdessen wandte sie sich dem Barmann zu, der sie stirnrunzelnd ansah, als wolle er sagen, sie sollte besser gehen, solange sie noch konnte.
Lorraine zwang sich zu einem Lächeln. Mit dem Wörterbuch in der Hand fragte sie nach dem Telefon. Der Mann schüttelte den Kopf. Es hing eines an der Wand, doch offenbar funktionierte es nicht.
No funcióna
informierte sie ein handgeschriebener Zettel. Wieder nahm sie ihr Wörterbuch und fragte genau, wie sie einen Fahrer mieten könne, der sie nach Campeche bringe.
“Ich fahre Sie nach Campeche”, erbot sich der schmierige Kerl am Tisch auf Englisch. Er sprach mit schwerem Akzent, und seine schleppende Sprechweise triefte nur so vor Andeutungen. Sein Stuhl scharrte, als er aufstand und mit Flasche und Glas an die Bar kam.
Alle Augen im Raum waren jetzt auf die beiden gerichtet.
“Nein, danke”, lehnte Lorraine höflich ab und sah weiterhin den Barmann an.
“Sie wollen einen Fahrer”, beharrte der Mann. “Ich Sie bringe hin.”
“Ich ziehe es vor, einen Wagen zu mieten, danke.” Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Barmann.
Der unangenehme Typ stellte die Flasche heftig auf der Bar ab. “Unterwegs, wir können Spaß haben, ja?”
“Nein”, widersprach Lorraine und vermied es weiterhin, ihn anzusehen. Er roch übel. Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass es so etwas gab, doch dieser Mann war die Verkörperung des Wortes Übel. Sein Gestank war gar nichts verglichen mit der Leere in seinen Augen, als kenne er weder Gefühl noch Mitleid, noch Gewissen. Die Art, wie er sie ansah, ließ sie frösteln.
Der Barmann, der bisher kaum etwas gesagt hatte, sprach beruhigend auf den Mann ein. Obwohl sie nicht verstehen konnte, was sie sagten, war offenkundig, dass der dunkle Typ gefürchtet wurde. Der Barmann schien dann etwas vorzuschlagen, wobei er eine oder mehrere der anderen Frauen ins Spiel brachte, wenn sie seine deutende Geste richtig interpretierte. Nur eines entnahm Lorraine dem Wortwechsel. Der Name des hässlichen Mannes war Carlos.
Carlos reagierte auf den Vorschlag des Barmannes mit einer Schimpfkanonade, die den anderen
Weitere Kostenlose Bücher