Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
Es war ein Schock gewesen, als er die Flugblätter zum ersten Mal gesehen hatte. Jeder Baum schien sein Gesicht zu tragen, es war, als ob jedes Dorf ihn des Mordes anklagte. Er hatte schreien wollen, hatte der Welt seine Unschuld entgegenbrüllen und den Ritter an den Pranger stellen wollen. Er hatte jedes Blatt, das ihm begegnet war, vom Baum gerissen. »Ich bin es nicht«, hatte er quer über den Steckbrief stempeln wollen. »Ich bin nicht der, den ihr sucht!«
Erst später war ihm eingefallen, dass auch Lisbeth das Blatt gesehen haben musste. Und Sophie. Was dachten sie nun von ihm – ließen sie sich täuschen?
Lisbeths Entsetzen. Über den Winter war das der schrecklichste Gedanke gewesen. Immer wieder hatte er ihr liebes Gesicht vor sich gesehen, ihre Augen, die sich beim Abschied mit Tränen gefüllt hatten. Wie viel Schmerz hatte er ihr bereitet und wie viele Stunden hatte sie um seine verlorene Seele geweint? Und Sophie, was war mit seiner Schwester? Die Flugblätter mussten ein furchtbarer Schlag für sie gewesen sein. Plötzlich tauchte der verloren geglaubte Bruder als Mörder wieder auf. Er hätte ihr so gern alles erklären wollen und in seinen Gedanken hatte er es versucht.
Oss schüttelte sich, öffnete die Augen und starrte seine Männer an. Es war ihm so wichtig, zurück auf die Heide zu kommen. Wichtiger noch als sein Leben. Ritter Rantzau muss hängen, dachte er und ballte die Hände zu Fäusten.
»Wir reiten!«, so lautete sein Befehl, der alle Zweifel beiseite wischte.
Er würde sich nicht umstimmen lassen und es gab nur noch eine Frage: Wann träfen sie endlich wieder aufeinander?
So wie alle großen Schlachten in den Wintermonaten ruhten, so war auch sein Kampf unter Eis und Schnee erstarrt. Christian Rantzau sog den scharfen Wind ein, der von Westen über das Land strich und die Wolken vor sich herschob. Seine Wangen brannten, ein Pfeifen und Sausen tanzte in seinen Ohren. Energisch trieb er sein Pferd voran. Er fühlte sich besser, nun da der Frost gewichen und das Leben in die Auenlandschaft zurückgekehrt war. Ja, er fühlte sich lebendig. Mit einem Blick über die Schulter versicherte er sich, dass seine Männer ihm folgten.
Der Winter war hart gewesen – auch auf der Breitenburg. Wie eine Spinne in ihrem Netz hatte Rantzau im Schloss ausgeharrt und gegen die vereisten Fensterscheiben gestarrt.
Da draußen … Irgendwo da draußen … Er hatte gespürt, dass Oss in den Wäldern hockte. In seinem Reich und auf dem Land seiner Väter! Und wenn er sich mit seinen Leuten durch den Schnee und das Dickicht der Rantzauschen Besitztümer arbeitete, spürte er den heißen Atem des Feindes in seinem Nacken.
Doch sie waren nie in die Nähe der Bande gelangt. Ja, sie hatten nicht einmal deren Versteck oder eine Spur ihrer Existenz entdecken können. Im Zwielicht schienen die Männer in dem vor Kälte knisternden Gehölz um ihn herumzutänzeln. Der Wald hatte ihn ausgelacht.
In jenen Momenten hatte Christian Rantzau gedacht, dass Oss sich vielleicht in ein Tier verwandelt hatte. War er der Bussard, der in großer Höhe über den kahlen Baumkronen seine Kreise zog? Das flüchtende Reh am Waldesrand, der scheue Fuchs in seinem Bau? Er hielt den Kopf gesenkt und las im Schnee, misstrauisch beäugte er die Fuchsspur, den Abdruck des Hasensprungs, die fein ausgetretene Rille der Feldmaus, das Wirrwarr der Tritte von Buchfink, Erlenzeisig und Goldammer. Oss kann mit dem Vieh reden, dachte er. Er denkt wie ein Biest. Er ist eine Bestie.
Dann hatte er den Steckbrief hervorgeholt und in Oss’ Gesicht gestarrt, das der Drucker so vortrefflich wiedergegeben hatte. Er hatte das Böse in den Augen glitzern sehen, den Hass und den Willen zu töten.
»Ich muss ihn finden, bald«, mit diesem Gedanken wachte Rantzau täglich auf, und damit schleppte er sich durch die stillen Wochen. Der Junge war eine Bedrohung – er gefährdete sein Leben, seine Zukunft, den Stolz seiner Familie. In seinen Träumen kehrte Rantzau immer wieder auf die Heide zurück. Wieder und wieder sah er das weißbestäubte Wesen vor sich, das ihnen dort vor Jahren entgegengekommen war. Das seltsame Gebaren, den wirren Blick. In seiner Erinnerung hallte der irre Schrei des Jungen wider. Er hätte das Kind töten sollen, dachte er immer wieder. Ich hätte es töten müssen. Niemand hätte nach dem Jungen gesucht. Warum hatte er nicht auf seine Leute gehört?
Und dann der goldene Sporn. Als das Schmelzwasser in den Gräben und Auen
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