Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
morschen Stamm inzwischen gefällt hatte?
Der untergehenden Sonne entgegen, die leichte Abendbrise im Rücken stieg Oss langsam den Hügel hinab. Er erinnerte sich an den schiefen Wuchs des Baumes, den morschen Stamm und an die Spechthöhle – darin hatte er damals, auf Zehenspitzen stehend, den Sporn versteckt.
Woran hatte ihn der Baum noch denken lassen? Während er durch Gras und Heidekraut schritt, versuchte er sich an seinen Merkspruch zu erinnern. Es dauerte eine Weile, bis er darauf kam, denn über die spärlichen Erfahrungen des Jungen hatte sich ein Durcheinander an Eindrücken und Erlebnissen gelegt. War es nicht der schiefe Wuchs des Baumes gewesen, der ihn an etwas hatte denken lassen?
»Magister Pfeiffer …« Oss lachte unwillkürlich auf. Ja, er erinnerte sich. Der Wuchs des Baumes hatte ihn an den krummen Buckel des Schleswiger Schulmeisters erinnert. »Der bucklige Pfeiffer.« Wie schillernde Glaskugeln leuchteten die Bilder der Schleswiger Kindertage in seiner Erinnerung auf. Selige Zeiten – Oss hoffte, dass er nun endlich die Zeiger der Schicksalsuhr zurückdrehen könnte. Es war an der Zeit.
Wenn er den Sporn gefunden hätte, wollte er nach Schleswig reiten und vor den Herzog treten. Und dann … In seinem Kopf setzte die ewig gleiche Abfolge seiner sehnlichsten Wünsche ein. In seiner Vorstellung gab es keinen Fehlschlag und keine Alternative dazu. Seine Rache an Christian Rantzau befreite ihn von allem Unglück und Schmerz. Und von der Einsamkeit, die sich seiner seit damals bemächtigt hatte.
Zuerst also würde man Ritter Rantzau anklagen und ihn mitsamt seiner Bande richten und hängen lassen. Dann würde er nach Sophie suchen und sie mit der kleinen Schwester finden. Zuletzt sah er sich um Lisbeth werben, danach legte sich ein Dunst aus vagen Träumen und Wünschen über sein weiteres Leben. Ein Schleier aus sonnendurchwirkten Farben.
Der Sporn, so dachte Oss, war mehr als der Beweis für Ritter Rantzaus Schuld. Und mehr als das Werkzeug seiner Rache. Er war sein Schlüssel zu allem – zu einem freien, stolzen Leben in den Herzogtümern.
Am Fuß des Hügels blieb er einen Moment stehen. Sein Blick schweifte über das Buschwerk und die Bäume. Suchend tastete er sich über das Holz der Eichen und Buchen, deren Stämme in der untergehenden Abendsonne leuchteten. Wo war der Buckel? Und wo war die Spechthöhle?
Oss schüttelte den Kopf. Er war sich sicher, dass der Baum sich in der Nähe befinden müsste. Doch das, was ihm damals sofort ins Auge gesprungen war, verbarg sich nun vor seinem suchenden Blick.
Hatte die Landschaft sich so sehr verändert? Oder war er es, der sich verändert hatte? Noch einmal versuchte er, sich in die Welt des Jungen von damals einzufühlen. Wer war er gewesen?
Christian. Wieder war da Sophies Stimme. Christian . Er erinnerte sich an seine Ehrfurcht vor der weiten Welt, an seinen Respekt vor Ossen-Schröder. Und an seine Liebe zu den Ochsen, den riesenhaften Ochsen. Wie viel größer und gewaltiger waren die Tiere ihm damals erschienen. Für einen Moment verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln.
Dann fiel es ihm ein. Er war ein Mann geworden, ein junger Mann. Um wie viel war er seither gewachsen? Gewiss war er mehr als einen Kopf größer als damals, heute würde er sogar seinen Vater überragen.
Oss ging in die Knie. Aus dieser Perspektive bot sich ihm ein anderes Bild. Und da, nur wenige Schritte vor ihm, sah er den krummen Stamm und die alte Spechthöhle, versteckt unter einem Astansatz.
Er war am Ziel. Sein Herz schlug schneller. Nach wenigen Schritten hatte er sein Versteck erreicht und zwängte seine Hand in das enge Loch.
Ja, er war gewachsen. Oss erinnerte sich, wie er damals auf Zehenspitzen nach der Höhle getastet hatte. Seine Jungenhand war mühelos durch die Öffnung gerutscht, nun hatte er das Gefühl, sich in einem Schraubstock zu befinden.
Wo war der Sporn? Seine Finger fühlten etwas Weiches, Moosartiges. Ein Nest, dachte er. Vorsichtig zupfte er das Gebilde heraus, wie ein Kunstwerk lag das feine Gespinst aus Zweigen, Moos und Federn in seiner Hand. Meisen hatten sich zwischenzeitlich in der Höhle eingenistet, vielleicht im vergangenen Jahr. Sie hatten seinen Schatz bewacht.
Wieder zwängte er seine Hand durch die Öffnung und tastete sich weiter voran. Zur Stammmitte hin schien sich das Loch zu verbreitern. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, dass die Höhle so weit in den Baum hineingeragt hatte. Doch dann fiel ihm ein,
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