Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
waten.«
»Und du findest den Weg?«
Sophie schwieg. Inzwischen war es so dunkel, dass sie nur langsam vorankamen. Doch die Zeit in den Gärten hatte ihre Sinne geschult, sie spürte keine Angst.
»Sophie?«
»Ich war lange nicht mehr unten. Als Kind habe ich dort mit meinem Bruder zwischen den Gräbern gespielt.«
Farid antwortete nicht. Schweigend liefen sie weiter, eine Ewigkeit lang, bis sie endlich den Wellenschlag der Schlei hörten, deren Wasser die halbe Stadt und die kleine Holminsel umschloss. Aus der Dunkelheit leuchtete ihnen ein flackerndes Licht entgegen.
»Die Kapelle auf dem Holm.«
Sophie schluckte, sie waren ihrem Ziel nun sehr nahe.
»Im Turm brennt ein Licht, um die Seelen der Toten zu trösten und den Teufel fernzuhalten.«
»Komm!« Sie schlüpfte aus ihrer Hose und stieg ins Wasser. Die Angst um die Schwester trieb sie voran.
»Sophie, warte!«
Sie hörte, dass auch Farid ins Wasser stieg. Er unterdrückte einen Aufschrei, das Wasser war kalt. Ihre Knöchel versanken im Schlick.
»Keine Schlangen, keine Ungeheuer?«
»Farid, komm!«
Sie schüttelte den Kopf, obwohl er sie kaum sehen konnte. Schritt für Schritt wateten sie auf die kleine Insel zu.
Der Friedhof war von einer Mauer eingefasst, die Pforte war verschlossen. Nachdem sie die Hosen wieder über die nassen, kalten Beine gezerrt hatten, half Farid ihr, hinüberzuklettern.
»Wir müssen auf die andere Seite.«
»Und die Toten?«
»Wir laufen so schnell wir können.«
Sophie packte Farid wieder bei der Hand und zog ihn mit sich. Geduckt liefen sie zwischen den Grabreihen entlang.
Die Stille auf dem Friedhof war eine andere als die, die sie eben noch am Ufer der Schlei umfangen hatte. Eine drückende, beängstigende Stille. Wie ein schweres Tuch lag sie über den Gräbern und sie schien sich auch auf ihre Seelen legen zu wollen. Sophie keuchte.
Bei Tage war das Gräberfeld ein ernster, aber nicht allzu gespenstischer Ort. Doch in der Nacht warf jeder Stein, jeder Baum, jeder Strauch bedrohliche Schatten, und die Schatten streckten ihre Hände nach ihnen aus. Der Tod und seine Spießgesellen waren plötzlich allgegenwärtig.
Als sie ein Geräusch hörten, fuhren sie zusammen.
»Was war das?«
»Schnell …« Farid zog Sophie hinter einen Grabstein, sie kauerten sich auf die Erde. Vor ihnen ragten Erdhügel auf, frische Gräber für die vielen Pesttoten der Stadt.
»Da ist noch jemand …«
Das Geräusch schien näher zu kommen. Schnelle Schritte, dann ein Keuchen und Stöhnen, als ob jemand etwas Schweres trug.
»Der Teufel …«
Sophie erinnerte sich an Johannas Bannspruch. Leise flüsterte sie die magischen Worte: »Sator arepo tenet opera rotas.«
Die Schritte entfernten sich, sie hörten ein Knirschen, Metall schrammte über Stein. Dann wieder Stille.
»Was war das?«
Sophie wagte sich zuerst aus dem Versteck.
»Ein Schmuggler vielleicht?«
Farid folgte ihr.
»Du sagtest doch, dass noch mehr Leute von diesem Schleichweg wissen.«
Sie liefen weiter, bald hatten sie die Mauer auf der anderen Seite des Friedhofs erreicht. Als sie vor den niedrigen Häusern der Fischer standen, seufzten sie erleichtert auf.
Zwischen den dunklen Hütten führte Sophie Farid wieder zur Schlei hinab. Es roch nach Brackwasser und gesalzenem Fisch. An einigen Türen in der Fischergasse sahen sie Pestkreuze, die mit weißer Kreide aufgemalt waren. Die Seuche hatte auch auf dem Holm gewütet. Es war still, nicht einmal ein Nachtvogel schrie. Wieder begegneten sie keinem Menschen und Sophie dachte, dass sie sich auf das Ende der Welt zu bewegten.
Würden sie Melissa überhaupt finden? Oder hatten sie sich umsonst in Gefahr gebracht?
ACHT
Die Tür zu Johannas Hütte war mit Brettern vernagelt. Ein Pestkreuz prangte auch hier auf dem Holz, Mahnung und Abschreckung zugleich. Farid rüttelte am Schloss.
»Wir brauchen eine Axt.«
»Hinten gibt es noch eine Luke. Komm …«
Sophie lief um das Haus. Im Garten roch es faulig nach gärenden Äpfeln, die Früchte zerfielen unter ihren Schuhen im feuchten Gras zu Mus. In diesem Jahr gäbe es keinen Apfelwein zu kaufen.
Der modrige Geruch trieb Sophie die Tränen in die Augen. Sie bückte sich und tastete nach den Früchten, doch die Äpfel fielen beim Aufsammeln auseinander. Sie waren ungenießbar.
Die Luke war verschlossen, aber nicht mit Brettern vernagelt. Farid tastete nach einem Scheit und schlug gegen das Holz, bis es zersplitterte.
Ein verstörender Geruch schlug ihnen
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