Der Sternengarten: Historischer Roman (German Edition)
entgegen, Tod und Verwesung. Der Pesthauch! Erschrocken taumelten sie zurück.
»Melissa …« Sophie hielt eine Hand vor Mund und Nase, sie versuchte, nicht allzu tief einzuatmen.
»Melissa, bist du da drin?« Vorsichtig spähte sie durch die Öffnung.
»Wir müssen da rein!«
Farid schob sie zur Seite und zwängte sich durch den schmalen Spalt. Dann half er ihr hineinzuklettern.
In der Hütte war es kalt und dunkel, der Gestank schien nun etwas nachzulassen. Sophie stolperte über einen Stuhl. Etwas flatterte vor ihrem Gesicht und erschrocken schrie sie auf.
»Licht. Wir brauchen Licht.«
Vorsichtig tastete sie sich zum Herd vor, wo ein Zündstein lag. Sie schlug Funken und entzündete eine Öllampe.
Das weiche Licht flutete den Raum. Aus der Dunkelheit leuchteten ihnen Augen entgegen. Rote Augen, vorwurfsvoll und unbewegt.
»Die Hühner …« Sophie leuchtete die dunklen Ecken aus. Der Hahn und seine Hennen saßen auf dem Tisch und starrten sie an. Offenbar hatten sie von Johannas Kräutern gelebt, neben Hühnerdreck und Ziegenkot bedeckten zerrupfte Sträuße und Beutel den Boden. Sophie atmete erleichtert auf. Kot und Dreck waren für den bestialischen Gestank verantwortlich.
»Da …« Farid zeigte auf den Vorhang, der zugezogen war. Der Leinenstoff bewegte sich wie von Geisterhand, etwas drückte sich dagegen.
»Melissa?«
Sophie zog den Vorhang mit einem Ruck zurück. Johannas Ziege lag dahinter und blinzelte sie träge an. Auch sie schien unversehrt.
»Wenn Melissa noch hier ist, muss sie oben sein.«
Sie drückte Farid die Lampe in die Hand und begann, die Leiter zum Boden hinaufzusteigen.
»Melissa …« Sie war nun dem Weinen nahe, ihre Stimme zitterte. Wo sollten sie suchen, wenn sie die Schwester nicht fanden? In einem Waldversteck wäre sie verloren.
»Ich brauche mehr Licht.«
Farid reichte ihr die Lampe nach oben. Johannas Matratze war unbenutzt, doch ihre bunte Decke fehlte. Hinter der Schlafstatt stapelten sich Heubündel und andere Vorräte. Auch Äpfel aus dem vergangenen Jahr lagen auf einem Brett, eine Erinnerung an rotwangige, glücklichere Tage. Zwischen den Ballen entdeckte Sophie Apfelreste. Ihr Herz begann zu schlagen.
»Melissa?«
War da etwas?
Sie hörte ein Wimmern, eine kleine Hand schob sich zaghaft durch die Wand aus Heu. Sophie schluchzte auf.
»Melissa!«
Sie setzte die Lampe ab, kniete sich vor das Heu und schob die Bündel zur Seite. Dahinter, wie in einem Nest, lag ihre Schwester. Ein verlassenes Vögelchen, hungrig und mit großen, dunklen Augen. In der Hand hielt Melissa ihren Schatz. Es war Sophies alter, geflochtener Zopf.
Später sollte Adam Olearius in seinen Aufzeichnungen notieren, dass die Pestilenz wie ein Gewitter an der Schlossinsel vorbeigezogen sei. Der Himmel habe sich verdunkelt, man habe das Grollen und Donnern am Horizont vernommen, Blitze seien über dem Land und der Stadt niedergefahren, doch wie durch ein Wunder habe man auf Gottorf keine Menschenseele an den Schwarzen Tod verloren. Während die Totengräber in Schleswig fünfhundertzweiundachtzig Pestopfer beerdigt hatten, erfreuten sich Hof und Hofstaat bester Gesundheit.
»Wir haben gehungert«, so schrieb Olearius in seinem Diarium , »und wir haben gebetet. Gott hat uns in seiner Gnade erhört.«
Erst im nächsten Frühjahr, als man sich plötzlich des Schleswiger Boten erinnerte, den man nach seiner Ankunft auf dem Schloss in ein Kellerverließ gesperrt hatte, entdeckten die Gottorfer, dass es doch ein Opfer auf der Insel gegeben hatte. Der arme Kerl war verhungert – und mit ihm das Pferd, an dessen Flanke gelehnt man die mumifizierten Überreste des Mannes fand.
Aber das war lediglich eine der vielen Merkwürdigkeiten, die sich unter dem bösen Zauber der Pest ereignet hatten. Seltsam war auch, dass die Gartenjungen nach und nach aus den Wäldern in die Gartenwerkstatt zurückkehrten, als hätten sie die Stimme ihres Herrn in der Wildnis vernommen. So konnte Hofgärtner Friedrichs sich mit Beginn der warmen Jahreszeit daranmachen, die Terrassen von wilden Trieben und Efeuranken zu befreien, die den Hügel mit ihren langen Armen erobert hatten. Dabei entdeckte er einen Ort in den Gärten, wo die Anpflanzungen sich dem Rückfall in den ungezähmten Naturzustand widersetzt hatten. Wie durch ein Wunder wuchsen dort die Frühblüher in verschlungenen Ornamenten zwischen den Hecken, so, wie er es in seinen Plänen vorgesehen hatte. Ein leuchtendes Beet aus verschiedenfarbigen
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