Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
er Moryson vertraut. Diesem Mann mit dem so offenen
Gesicht und den klaren blauen Augen. Wie oft hatte dieser sanfte Kirchenführer ihn schon mit seiner ruhigen
Stimme trösten können.
»Bevor der Morgen graut, sieht es stets am düstersten
aus«, fuhr Moryson jetzt fort. »Und diese Stunde scheint
nun für Euch angebrochen zu sein. Artor will nur Eure
Glaubensfestigkeit prüfen, um festzustellen, ob Ihr dazu
geeignet seid, das Königreich und den Seneschall durch
diese schwere Zeit zu führen.« Der Erste Berater hatte
ihn jetzt erreicht und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich danke dem Schicksal auf Knien dafür, in dieser
Stunde Euch an meiner Seite zu wissen. Wer, wenn nicht
Ihr, könnte für Achar und die Kirche noch alles zum
Guten wenden?«
Tja, Bornheld, dachte Jayme, während er zusah, wie
sein getreuer Moryson den Mann wiederaufzurichten
versuchte, Ihr seid nur noch am Leben, weil wir bislang
keinen Ersatz für Euch gefunden haben. So wie die Dinge zur Zeit stehen, sind wir auf Gedeih und Verderb auf
Euch angewiesen. Allerdings kann ich nicht verhehlen,
daß ich mittlerweile glaube, wir haben einen Riesenfehler
damit begangen, Euch auf den Thron zu verhelfen. Ach,
Artor, warum haben wir nicht einfach mit Priam weiterregiert? Der Mann war zwar ein Einfaltspinsel gewesen,
aber dafür um so leichter lenkbar.
Bornheld hatten derweil innere Ruhe und tiefer Frieden überkommen. Ja, die Kirchenführer hatten recht. Wie
hatte er sich nur von Axis ins Bockshorn jagen lassen
können? Sein Bruder war doch bis auf den Grund seiner
Seele verdorben.
Gautier, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte,
meldete sich nun zu Wort: »Euer Majestät, ich habe mir
einige Gedanken über die Strategie gemacht, zu der wir
morgen greifen sollten.«
»Ja und?« fragte Bornheld neugierig. Der Abend war
zwar schon fortgeschritten, aber er wollte nicht zu Bett
gehen. »Habt Ihr einen Plan ausgearbeitet?«
»Laßt mich ihn Euch darlegen …« begann der Leutnant.
In einem anderen Flügel des Palasts saß Faraday geduldig da und ließ sich von Yr das Haar bürsten.
»Ich kann Ogden, Veremund und Jack schon spüren«,
verriet die Katzenfrau ihr. »Sie sind sehr nahe, und bald
werden wir wiedervereint sein.« Yr legte die Bürste hin.
»Allerdings weiß ich nicht, was wir vier allein ausrichten
können. Ohne Zecherach sind wir unvollständig und
können nur recht wenig bewirken.«
Die Königin erhob sich, trat ans Fenster und schaute
zum Gralsee hinaus. Weit draußen, so weit, daß sie nicht
wußte, ob sie einer Sinnestäuschung erlag, funkelten
kleine Lichtlein, die Lagerfeuer von Axis’ Heerlager.
Seit ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Hain machte Faraday sich große Sorgen, ob der Krieger überhaupt noch
Gefühle für sie hege. Als sie ihn fragte, ob er sie weiterhin liebe, hatte er gezögert. Und dann hatte er auch nur
geantwortet, daß er sie begehre. Tränen schossen ihr
wieder in die Augen. Auch Bornheld hatte sie begehrt,
und daraus waren nur Haß und Schmerz erwachsen. Dabei wollte sie doch einfach nur geliebt werden.
»Und ich dachte, sein Herz schlägt für mich«, murmelte sie und hielt ihren Blick weiter auf das Lager gerichtet.
Die Wächterin legte ihr beruhigend eine Hand auf die
Schulter. »Faraday, mein Herz, er ist lange fort gewesen,
und Ihr beide habt Euch in dieser Zeit weiterentwickelt,
womöglich sogar in verschiedene Richtungen. Axis ist
nicht mehr der Axtherr, in den Ihr Euch damals verliebt
habt. Er ist heute ein ikarischer Zauberer. Und auf der
anderen Seite seid Ihr nicht mehr das Mädchen, das ihn
damals im Mondsaal in aller Naivität so offen angestarrt
hat. Ich vermute, als der Krieger Euch im Hain wiedergesehen hat, erstaunte ihn erst einmal, wozu Ihr herangereift seid. Liebste Freundin, wahrscheinlich braucht Ihr
beide einfach nur etwas Zeit und Ruhe, um Euch erneut
kennenzulernen … oder überhaupt erst richtig kennenzulernen. Vergeßt nicht, daß Euch beiden nie viel Zeit allein beschieden war. Ihr hattet bislang doch überhaupt
keine Gelegenheit, mehr voneinander zu erfahren oder
miteinander zu erleben. Wartet nur ab, Faraday, Eure
Zeit wird schon noch kommen.«
»Glaubt Ihr wirklich, Yr?« Sie drehte sich zu der
Wächterin um, und neue Hoffnung stand hell und klar in
ihren grünen Augen. »Seht Ihr das tatsächlich so?« Die
Worte der Katzenfrau ergaben durchaus einen Sinn. Axis
und sie selbst auch hatten mannigfaltige Wandlungen
hinter
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