Der Sternenhuter - Unter dem Weltenbaum 04
den Wunden zu
erholen, die der Krieg zwischen seinem Bruder und ihm
ihnen zugefügt hatte. Die gesamte Bevölkerung Karlons
strömte zu dem Festakt hinaus auf die Felder am Ostrand des Sees. Unter die Bürger und die Tausende weiterer Achariten, die zu diesem Ereignis in die
Hauptstadt gepilgert waren, mischten sich die Soldaten
aus der Armee des Sternenmanns: Achariten, Rabenbunder und Ikarier. Die Bewohner Karlons, die nie zu
den treuesten Anhängern des Seneschalls gehört hatten,
hatten sich den Vogelmenschen rasch angenähert. Und
mittlerweile sah man auf den Märkten Achariten und
Ikarier bunt gemischt beim Einkaufen und Feilschen.
Die Bewohner der ländlichen Gebiete legten ihre Scheu
hingegen nicht so rasch ab. Manche von ihnen warfen
den Flügelwesen sogar scheele Blicke zu. Aber alles in
allem kam es nicht zu den befürchteten Unruhen. Kaum
jemand machte noch ein Aufheben von der Anwesenheit
der Ikarier.
Embeth fühlte sich, nachdem Judith sich wieder nach
Burg Tare zurückgezogen hatte, recht einsam und stand
hilflos vor den Umwälzungen, die das Land überkommen
hatten. So hatte sie Sternenströmers Blicken und Werben
schließlich nachgegeben. Inzwischen teilte sie mit ihm
ein Gemach im Palast. Der Herrin von Tare war bewußt,
daß ihre Affäre nicht länger als einige Tage oder Wochen
halten würde. Aber im Moment brauchte sie ganz dringend jemanden, der ihr Halt gab. Über kurz oder lang
bliebe ihr wohl kaum etwas anderes übrig, als wieder ihr
Heim in Tare aufzusuchen. Was hielt sie denn hier noch?
Ihre beiden jüngsten Kinder waren längst verheiratet und
lebten weit im Westen. Und Timozel … Ihr Ältester war
verschwunden.
Embeth wandte jetzt der versammelten Menge den
Rücken zu und machte sich auf den Weg zum Palast.
Aschure hatte die ganze Nacht des tödlichen Zweikampfs
zwischen Axis und Bornheld damit verbracht, am Ostufer
des Sees auf und ab zu laufen, den Himmel zu beobachten, wie sich dort langsam die Dämmerung ausbreitete,
und zu warten, zu warten und zu warten. Als dann auf
der Spitze des höchsten Turms des Palasts das goldene
Sonnenfliegerbanner aufgezogen wurde, brach die junge
Frau vor Erleichterung zusammen und weinte hemmungslos. Doch neben der Freude fühlte sie sich auch
unendlich elend; denn sie hatte den Krieger nun an Faraday verloren.
Die heutige Zeremonie bereitete ihr einiges Unbehagen. Seit jener Nacht, in der Axis über den See gerudert
war, um mit seinem Bruder abzurechnen, hatte sie ihn
nicht mehr zu Gesicht bekommen. Belial hatte ihr jedoch
alles berichtet, was sich seitdem ereignet hatte. Nun endlich würde sie ihren Liebsten Wiedersehen – und auch
Faraday. Aschure hatte gehört, daß man die junge Königin nur noch lächelnd antraf. Und warum auch nicht?
Immerhin hatte sie die letzten acht Tage mit dem Krieger
verbringen dürfen.
Hinzu kam ihre zweite Schwangerschaft. Axis hatte
ihr ausrichten lassen, daß sie sich an diesem Tag prächtig
gewanden solle – und ihr dafür eigens ein Kleid anfertigen lassen. Aber Aschure befand sich bereits im fünften
Monat. Mochten die Ikarierkinder im Mutterleib in der
Regel kleiner sein als die der Menschen, so nahm ihr
neues Kind doch um einiges mehr Platz ein als seinerzeit
Caelum zum gleichen Zeitpunkt. Und jetzt auch noch ein
Abendkleid, dachte die junge Frau etwas bitter. Darin
konnte sie ihre Schwangerschaft nicht mehr so gut wie
unter dem Lang- oder dem Kettenhemd verbergen.
Der dunkelrote Stoff des Gewandes brachte Aschures
helle Haut und blaue Augen wundervoll zur Geltung.
Imibe flocht ihr kleine Perlen aus Samenkernen ins Haar,
die farblich exakt zu den aufgestickten Perlen der Robe
paßten. Es war ein Gewand für eine Dame aus dem
Hochadel, und Aschure betrachtete sich sehr lange im
Spiegel, nachdem ihre Zofe ihre Arbeit beendet hatte.
Sie hörte Schritte: Isgriff erschien, ganz in rosafarbenen
und goldenen Brokat gehüllt, um Aschure zu der Feier zu
geleiten. Während der letzten acht Tage hatte niemand mit
ihr mehr Zeit verbracht als der Baron von Nor. Abends
gesellte er sich zu ihr und vertrieb ihr die Zeit; brachte sie
trotz ihrer Traurigkeit zum Lachen und erzählte ihr Geschichten darüber, wie es in seiner Hauptstadt Isbadd zuging, oder darüber, wie er in jungen Jahren auf den
Seeräuberschiffen der Pirateninsel mitgefahren war. Und
in den Stunden, in denen er spürte, daß die junge Schöne
jetzt einfach nur seiner Gesellschaft bedurfte, saß er nur
still
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