Der stille Amerikaner
gelbe. Geh zum Hotel hinunter und gib diesen Brief für mich auf.«
Sie warf einen Blick auf die Adresse. »Ich könnte ihn zur Gesandtschaft tragen. Da würdest du dir die Marke ersparen.«
»Nein, es ist mir lieber, wenn du ihn aufgibst.«
Dann legte ich mich zurück, und in der Entspannung, die mir das Opium schenkte, dachte ich: Wenigstens wird sie mich nicht vor meiner Abreise verlassen, und morgen, nach ein paar weiteren Pfeifen, wird mir vielleicht irgendein Weg einfallen, wie ich hierbleiben kann.
2
Das Alltagsleben geht weiter – dies hat schon manchen davor bewahrt, den Verstand zu verlieren. So wie es während eines Luftangriffs unmöglich war, die ganze Zeit über Angst zu haben, legte ich unter dem Bombardement gewohnter Arbeiten, zufälliger Begegnungen und unpersönlicher Sorgen oft für viele Stunden meine privaten Ängste ab. Die Gedanken an den nächsten April, an die Abreise von Indochina, an die nebelhafte Zukunft ohne Phuong wurden unterbrochen durch die täglichen Telegramme, die Kriegsberichte der vietnamesischen Presse und durch die Erkrankung meines Mitarbeiters, eines Inders namens Dominguez (seine Familie war über Bombay aus Goa gekommen), der mich bei weniger bedeutsamen Pressekonferenzen vertreten, allerorts mit gespitzten Ohren jeden Klatsch, jedes Gerücht aufgelesen und meine Berichte zu den Telegrafenämtern und zur Zensurstelle gebracht hatte. Mit der Hilfe indischer Händler unterhielt er besonders im Norden, in Haiphong, Nam Dinh und Hanoi, seinen eigenen Nachrichtendienst für mich, und ich bin überzeugt, daß er über die Lage der einzelnen Vietminh-Bataillone im Tonkin-Delta genauer unterrichtet war als das französische Oberkommando.»
Da wir unsere Informationen nie benützten, außer wenn sie als Zeitungsmeldung interessant wurden, und sie niemals an den französischen Geheimdienst weitergaben, genoß Dominguez das Vertrauen und die Freundschaft mehrerer Agenten der Vietminh, die sich in Saigon und Cholon versteckt hielten. Der Umstand, daß er trotz seines Namens Asiate war, kam ihm dabei ohne Zweifel zustatten.
Ich mochte Dominguez gern. Während andere Menschen ihren Stolz wie eine Hautkrankheit an der Oberfläche tragen und so empfindlich sind, daß sie auf die leiseste Berührung reagieren, war sein Stolz tief in seinem Innern verborgen und auf das kleinste Maß reduziert, das bei einem Menschen, glaube ich, überhaupt möglich ist. Im täglichen Umgang mit ihm begegnete man nichts als Sanftmut, Bescheidenheit und absolute Wahrheitsliebe: Man hätte mit ihm verheiratet sein müssen, um den Stolz zu finden. Vielleicht gehen Wahrheitsliebe und Bescheidenheit Hand in Hand; so viele Lügen entspringen unserem Stolz – in meinem Beruf dem Stolz des Reporters, dem Wunsch, eine bessere Story zu bringen als der andere, und es war Dominguez, der mir half, diesen Ehrgeiz zu überwinden – all den Telegrammen von zu Hause zu widerstehen, in denen man gefragt wurde, warum nicht auch ich die Story des Soundso oder die Meldung eines anderen gebracht hätte, von denen ich von vornherein gewußt hatte, daß sie erlogen waren.
Nun, da er krank war, erkannte ich erst, wieviel ich ihm verdankte – ja, er sorgte sogar dafür, daß mein Wagen getankt war, und drängte sich doch nicht ein einziges Mal, weder durch eine Anspielung noch durch einen Blick, in mein Privatleben. Ich glaube, er war Katholik, doch besaß ich abgesehen von seinem Namen und seinem Geburtsort keinen Beweis für diese Annahme – nach allem, was ich aus Gesprächen mit ihm wußte, hätte er ebensogut ein Anhänger Krischnas sein oder, von einem Drahtrahmen gepeinigt, auf die jährliche Pilgerfahrt zu den Batuhöhlen gehen können.
Jetzt empfand ich seine Erkrankung als wahre Wohltat, weil sie mich von der Tretmühle meiner privaten Sorgen befreite. Ich war es nun, der an den langweiligen Pressekonferenzen teilnehmen mußte und zu einem Schwatz mit den Kollegen an den Tisch der Reporter im »Continental« zu humpeln hatte; nur war ich viel weniger als Dominguez imstande, Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden, weshalb ich es mir zur Gewohnheit machte, ihn jeden Abend zu besuchen und alles, was ich während des Tages gehört hatte, mit ihm zu besprechen. Bisweilen war einer seiner indischen Freunde anwesend und saß dann in der bescheidenen Wohnung, die Dominguez in einer der ärmlichen Seitenstraßen des Boulevard Gallieni mit einem zweiten Mieter teilte, an seinem schmalen Eisenbett.
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