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Der stille Amerikaner

Der stille Amerikaner

Titel: Der stille Amerikaner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Greene
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Arbeit eher aufzuleben als zu Ende zu gehen schien. Es war, als betrete man das Bühnenbild einer Pantomime: Die langen, senkrecht herabhängenden chinesischen Ladenschilder, die hellen Lichter und das Gewühl von Statisten führten einen tief in die Kulissen, wo alles plötzlich so viel dunkler und stiller war. Entlang einer solchen Kulisse kam ich wieder hinunter zum Kai und zu einem dichten Gedränge chinesischer Wohnboote, wo im Schatten die Lagerhäuser gähnten und kein Mensch zu sehen war.
    Ich fand das Gebäude mit einiger Schwierigkeit und beinahe durch Zufall. Das Tor des Lagers stand offen, und im Schein einer alten Laterne konnte ich die bizarren, an Picasso gemahnenden Formen des Gerümpelhaufens erkennen: Bettgestelle, Badewannen, Aschenkübel, die Motorhauben von Automobilen, und wo das Licht hinfiel, leuchteten Streifen alter Farbe auf. Ich ging einen schma len Pfad entlang, der wie in einem Steinbruch aus einem Berg von Eisen herausgehauen worden war, und rief laut nach Mr. Chou, doch es kam keine Antwort. Am Ende des Lagers führte eine Treppe nach oben, und ich nahm an, daß sich dort vielleicht Mr. Ghous Wohnung befand – anscheinend hatte man mir den Weg zur Hintertür angegeben, und ich nahm an, daß Dominguez dafür triftige Gründe hatte. Sogar im Stiegenhaus war links und rechts Gerümpel aufgestapelt, Stücke von Schrott, die in diesem Dohlennest von einem Haus eines Tages noch von Nutzen sein mochten. Vom Treppenabsatz öffnete sich eine Tür in einen einzigen weiten Raum, in dem sich eine große Familie sitzend und liegend verteilte, so daß das Ganze wie ein Feldlager wirkte, das jeden Augenblick vom Feind überfallen werden konnte. Überall standen kleine Teetassen umher, und es gab eine Unmenge von Pappschachteln voll unbestimmbarer Gegenstände und fest verschnürte Fiberkoffer; eine alte Dame saß auf einem mächtigen Bett, man sah zwei Buben und zwei Mädchen, ein Baby, das auf dem Boden umherkroch, drei ältliche Frauen in abgetragenen braunen Bauernhosen und ebensolchen Jacken. Zwei alte Männer in den blauen Seidenröcken von Mandarinen spielten in einer Ecke Mah-Jongg, ohne von meinem Erscheinen Notiz zu nehmen. Sie spielten mit flinken Bewegungen, wobei sie die Steine durch die bloße Berührung erkannten, und das Geräusch, das sie dabei machten, glich jenem von Kieseln am Meeresstrand, wenn eine zurückflutende Woge sie umwendet. Auch sonst schenkte mir niemand Beachtung; nur eine Katze sprang auf einen Karton, und ein magerer Hund beschnupperte mich, um sich gleich wieder zurückzuziehen.
    »Monsieur Chou?« fragte ich, worauf zwei der Frauen den Kopf schüttelten. Noch immer sah mich niemand an; bloß eine der Frauen spülte eine Tasse aus und füllte sie mit Tee aus einer Kanne, die in einem mit Seide ausgeschlagenen Kästchen warmgehalten wurde. Ich nahm am Bettende neben der alten Dame Platz, und ein junges Mädchen reichte mir die Tasse: Es war, als ob ich in eine Gemeinschaft mit der Katze und dem Hund eingereiht worden wäre – vielleicht waren sie einmal auch so von ungefähr aufgetaucht wie ich. Das Baby kroch über den Fußboden und zerrte an meinen Schuhbändern, niemand wies es zurecht: Im Fernen Osten tadelte man Kinder nicht. An den Wänden hingen drei Geschäftskalender, von denen jeder ein Mädchen in heiterer chinesischer Tracht und mit grellen rosa Backen zeigte. Ein großer Spiegel trug mysteriöserweise die Aufschrift »Café de la Paix« –, wahrscheinlich war er durch irgendeinen Zufall unter das Gerümpel geraten: Ich selbst hatte das Gefühl, daß ich darunter geraten war.
    Langsam trank ich den bitteren grünen Tee, wobei ich die henkellose Tasse immer wieder aus einer Handfläche in die andere schob, weil mir die Hitze die Finger verbrannte, und ich überlegte, wie lange ich bleiben sollte. Einmal versuchte ich die Familie auf französisch anzusprechen, ich fragte, wann sie Monsieur Chou erwarteten, aber niemand antwortete: Wahrscheinlich hatten sie mich nicht verstanden. Als meine Tasse leer war, füllten sie sie nach und setzten dann ihre eigenen Beschäftigungen fort: Eine Frau bügelte, ein Mädchen nähte, die zwei Jungen machten ihre Schulaufgaben, die alte Dame betrachtete ihre Füße, die winzigen, verkrüppelten Füße des alten China – und der Hund beäugte die Katze, die auf den Kartons sitzenblieb.
    Ich begann zu begreifen, wie schwer Dominguez für seinen kargen Lohn arbeitete.
    Ein äußerst abgemagerter Chinese trat in den Raum.

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