Der stille Amerikaner
sein Fernbleiben und Schweigen, beide leicht erklärlich (denn er reagierte auf Peinlichkeiten stärker als ich), beunruhigten mich bisweilen in übertriebenem Ausmaß, so daß ich mir abends, ehe die wohltuende Wirkung des Schlafmittels einsetzte, oft vorstellte, wie er meine Treppe hinaufging, an meine Tür klopfte und in meinem Bett schlief. Ich hatte ihm damit unrecht getan, und so hatte ich zu meiner anderen, mehr förmlichen Verpflichtung noch Schuldgefühle hinzugefügt. Überdies drückte mich wohl auch wegen meines Briefs das Gewissen. (Welch ferne Vorfahren hatten mir dieses törichte Gewissen hinterlassen? Sie waren doch bestimmt frei davon gewesen, als sie in ihrer paläolithischen Welt schändeten und mordeten.)
Sollte ich meinen Lebensretter zum Dinner einladen, fragte ich mich mitunter, oder sollte ich ein Treffen in der Bar des »Continental« vorschlagen und ihm einen Drink spendieren? Es war ein ungewöhnliches gesellschaftliches Problem, dessen Lösung vielleicht davon abhing, welchen Wert man dem eigenen Leben beimaß. Ein Essen und eine Flasche Wein, oder einen doppelten Whisky? – Diese Frage beschäftigte mich mehrere Tage lang, bis Pyle selbst die Lösung herbeiführte, als er erschien und durch die versperrte Tür zu mir hereinrief. Ich verschlief gerade die Nachmittagshitze, erschöpft von dem vormittäglichen Versuch, mein Bein zu bewegen, und hörte nicht sein Klopfen.
»Thomas, Thomas.« Sein Ruf drang in meinen Traum, in dem ich durch eine lange, menschenleere Straße ging und nach einer Seitengasse suchte, die nie kam. Die Straße entrollte sich vor mir so einförmig wie der Papierstreifen eines Telegrafenapparats und hätte sich nie verändert, wenn nicht die Stimme hereingebrochen wäre – zuallererst wie Schmerzensschreie aus einem Turm, und dann plötzlich wie eine Stimme, die mich persönlich ansprach: »Thomas, Thomas.«
Flüsternd sagte ich: »Gehen Sie weg, Pyle. Kommen Sie mir nicht nahe. Ich will nicht gerettet werden.«
»Thomas!« Er hämmerte mit dem Fuß gegen die Tür; aber ich lag da und gab kein Lebenszeichen, als wäre ich wieder im Reisfeld und er ein Feind. Plötzlich bemerkte ich, daß das Pochen aufgehört hatte, jemand sprach draußen mit leiser Stimme, und jemand anders antwortete. Geflüster ist etwas Gefährliches. Ich konnte nicht erkennen, wer die Sprecher waren. Ich erhob mich behutsam von meinem Bett und erreichte mit Hilfe des Stocks die Tür des Vorderzimmers. Vielleicht hatte ich mich zu hastig bewegt und sie hatten mich gehört, denn draußen entstand eine Stille. Eine Stille, die wuchs und gleich einer Pflanze Ranken ausstreckte: Sie schien unter der Tür hereinzuwachsen und ihre Blätter im Zimmer auszubreiten, in dem ich stand. Es war eine Stille, die ich nicht mochte, und ich zerriß sie, indem ich die Tür aufstieß. Auf dem Gang stand Phuong und Pyles Hände lagen auf ihren Schultern: Nach ihrer Stellung zu schließen, mochten sie sich gerade nach einem Kuß getrennt haben.
»Ach, kommen Sie doch herein«, sagte ich, »kommen Sie herein.«
»Ich klopfte so laut, aber Sie hörten mich nicht«, sagte Pyle.
»Zuerst schlief ich, und dann wollte ich mich nicht stören lassen. Jetzt bin ich gestört. Also kommen Sie herein.« Phuong fragte ich auf französisch: »Wo hast du ihn aufgelesen?«
»Hier. Im Korridor«, sagte sie. »Ich hörte jemand klopfen und lief herauf, um ihn einzulassen.«
»Nehmen Sie Platz«, sagte ich zu Pyle. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Nein, Thomas, und ich möchte mich auch nicht setzen.«
»Ich muß mich setzen. Das Bein ermüdet sehr schnell. Meinen Brief haben Sie doch erhalten?«
»Ja. Ich wollte, Sie hätten ihn nicht geschrieben.«
»Warum?«
»Weil er lauter Lügen enthält. Ich habe Ihnen vertraut, Thomas.«
»Sie sollten keinem Mann trauen, wenn eine Frau im Spiel ist.«
»Dann dürfen Sie mir in Hinkunft auch nicht trauen. Wenn Sie ausgehen, werde ich mich hier hereinschleichen; ich werde an Phuong Briefe schreiben, in einem mit Maschine beschriebenen Umschlag. Vielleicht werde ich erwachsen, Thomas.« Aber in seiner Stimme schwangen Tränen, und er sah jünger aus als je zuvor. »Konnten Sie nicht gewinnen, ohne zu lügen?«
»Nein. Das ist die europäische Doppelzüngigkeit, Pyle. Irgendwie müssen wir unseren Mangel an materiellen Gütern doch wettmachen. Aber ich muß es ungeschickt gemacht haben. Wie fanden Sie denn die Lügen heraus.?«
»Es war ihre Schwester«, sagte er. »Sie
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