Der stille Amerikaner
ich bis zu ihrer Heimkehr unfähig, irgendeine Arbeit in Angriff zu nehmen, denn ich überlegte jedesmal, ob sie überhaupt noch heimkehren würde. Ich wollte genau wissen, wo sie gewesen war (wobei ich versuchte, weder Sorge noch Argwohn in meiner Stimme mitklingen zu lassen). Manchmal gab sie mir zur Antwort, sie sei auf dem Markt oder in einem Laden gewesen, und zeigte mir ihr Beweisstück (selbst ihre Bereitwilligkeit, jede Antwort auf solche Weise zu bekräftigen, schien mir damals unnatürlich); manchmal war sie im Kino gewesen und hatte zum Beweis auch schon die Eintrittskarte zur Hand; manchmal war sie bei ihrer Schwester gewesen – und dort, so vermutete ich, traf sie Pyle. In jener Zeit nahm ich sie mit wilder Grausamkeit, so, als ob ich sie haßte. Was ich aber in Wahrheit haßte, war die Zukunft. In meinem Bett lag die Einsamkeit, und Einsamkeit schloß ich nachts in die Arme. Phuong veränderte sich nicht. Sie kochte für mich, machte mir die Pfeife, sanft und lieblich breitete sie ihren Körper zu meinem Genuß aus (aber es war kein Genuß mehr). Und genauso, wie ich in jenen ersten Tagen ihre Seele hatte gewinnen wollen, wollte ich jetzt ihre Gedanken lesen, doch diese waren verborgen in einer Sprache, die ich nicht sprechen konnte. Ich mochte sie nicht ausfragen; ich wollte sie nämlich nicht zum Lügen veranlassen (solange keine Lüge ausgesprochen war, konnte ich so tun, als ob sich zwischen uns nichts geändert hätte), aber auf einmal sprach meine Angst aus mir, und ich fragte sie: »Wann hast du Pyle zuletzt gesehen?«
Sie zögerte – oder dachte sie wirklich nach? »Als er hierherkam«, sagte sie.
Ich begann – fast unbewußt – alles Amerikanische herabzusetzen. Bei jeder Gelegenheit machte ich Bemerkungen über die Dürftigkeit der amerikanischen Literatur, über die Skandale in der amerikanischen Politik, die Ungezogenheit der amerikanischen Kinder. Es war, als ob Phuong mir von einer ganzen Nation und nicht von einem einzelnen Mann abspenstig gemacht würde. Nichts, was Amerika tat, war in Ordnung. Allmählich ging ich mit diesem Thema allen auf die Nerven, sogar meinen französischen Freunden, die nur zu gern bereit waren, meine Abneigung zu teilen. Es war, als sei ich verraten worden, aber man wird nicht verraten von einem Feind.
Gerade zu jener Zeit kam es zu dem Zwischenfall mit den Fahrradbomben. Als ich eines Tages aus der »Imperial-Bar« in die leere Wohnung zurückkehrte (war sie im Kino oder bei ihrer Schwester?), entdeckte ich, daß unter meiner Tür ein Brief hereingeschoben worden war. Er kam von Dominguez. Dieser entschuldigte sich dafür, daß er noch immer krank war, und bat mich, am folgenden Vormittag um halb elf vor dem großen Kaufhaus an der Ecke des Boulevard Charner zu sein. Er schrieb mir auf Ersuchen Mr. Chous. Ich hatte aber den Verdacht, daß es eher Mr. Heng war, der meine Anwesenheit wünschte.
Wie sich herausstellte, war die ganze Angelegenheit nicht mehr als eine kurze Notiz in der Zeitung wert, und noch dazu eine humoristische Notiz. Sie stand in keinem Verhältnis zu den traurigen und schweren Kämpfen im Norden, zu jenen Kanälen in Phat Diem, die mit grauen, tagealten Leichen vollgestopft waren, zu dem Trommelfeuer der Granatwerfer und dem grellweißen Leuchten der Napalmbomben.
Ich hatte ungefähr eine Viertelstunde in der Nähe eines Blumenstands gewartet, als aus der Richtung des Hauptquartiers der Sureté in der Rue Catinat ein Lastwagen voll Polizisten gefahren kam und mit knirschenden Bremsen und quietschenden Reifen hielt. Die Männer sprangen heraus und stürmten auf das Kaufhaus zu, als ob sie eine erbitterte Volksmenge angriffen; doch es gab keine Volksmenge, bloß ein dichtes Verhau von abgestellten Fahrrädern. Jedes größere Gebäude in Saigon ist von ihnen wie mit einem Zaun umgeben – in keiner Universitätsstadt des Westens gibt es so viele Fahrradbesitzer. Ehe ich Zeit fand, meine Kamera einzustellen, war die komische und unerklärliche Aktion auch schon beendet. Die Polizisten hatten sich zwischen die Fahrräder hineingezwängt und drei von ihnen herausgegriffen, die sie hoch über dem Kopf auf den Boulevard hinaustrugen und sie dort in das Becken eines Springbrunnens warfen. Noch bevor ich einen der Polizisten abfangen konnte, waren sie wieder in ihrem Wagen und rasten durch den Boulevard Bonnard davon.
»Unternehmen Bicyclette«, sagte eine Stimme hinter mir. Es war Mr. Heng.
»Was ist los?« fragte ich. »Eine Übung?
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