Der stille Amerikaner
Dutzend von uns zu überleben. Sie wird alt werden, das ist alles. Sie wird leiden unter der Geburt ihrer Kinder, unter Hunger, Kälte und Rheumatismus, aber sie wird niemals so wie wir unter Gedanken leiden, unter Besessenheit – sie wird keine Kratzspuren aufweisen, sie wird nur verwelken.« Doch noch während ich diese Rede hielt und dabei Phuong beim Umblättern beobachtete (jetzt kam ein Familienbild mit Prinzessin Anne), wußte ich, daß ich – nicht anders als Pyle – daran war, einen Charakter zu erfinden. Niemals kennt man einen anderen Menschen; und alles, was ich in Wirklichkeit über Phuong wußte, war, daß sie genauso Angst hatte wie wir alle: Sie verfügte nur nicht über die Gabe, ihr Ausdruck zu verleihen, das war alles. Und ich erinnerte mich an jenes erste quälende Jahr, als ich so leidenschaftlich versucht hatte, sie zu verstehen, als ich sie angefleht hatte, mir ihre Gedanken zu verraten, und sie durch meine sinnlosen Wutausbrüche über ihre Schweigsamkeit erschreckt hatte. Selbst meine Begierde war eine Waffe gewesen, als ob, indem man das Schwert in den Leib des Opfers stieß, ihre Beherrschtheit schwinden und sie reden würde.
»Sie haben genug gesagt«, sagte ich zu Pyle. »Sie wissen jetzt alles, was es zu wissen gibt. Bitte, gehen Sie.«
»Phuong!« rief er.
»Monsieur Pyle?« erkundigte sie sich und blickte von der Betrachtung des Schlosses Windsor auf. Ihre förmliche Art wirkte in diesem Augenblick zugleich komisch und beruhigend.
»Er hat Sie angeschwindelt«, sagte Pyle.
»Je ne comprends pas.«
»Ach, verschwinden Sie«, sagte ich. »Gehen Sie zu Ihrer Dritten Kraft und zu York Harding und zur Rolle der Demokratie. Gehen Sie und spielen Sie mit Ihrem Kunststoff!«
Später mußte ich zugeben, daß er diesen Aufforderungen wortwörtlich nachgekommen war.
Dritter Teil
Erstes Kapitel
1
Nach Pyles Tod vergingen fast vierzehn Tage, ehe ich Vigot wiedersah. Ich ging gerade durch den Boulevard Charner, als er mir aus dem Restaurant »Le Club« nachrief. Das Lokal erfreute sich damals größter Beliebtheit bei den Beamten der Sureté, die in einer Art herausfordernder Geste gegen jene, von denen sie gehaßt wurden, im Erdgeschoß zu tafeln pflegten, während das allgemeine Publikum im ersten Stock speiste, außerhalb der Reichweite eines Partisanen mit Handgranate. Ich setzte mich zu ihm, und er bestellte für mich einen Vermouth-Cassis. »Möchten Sie darum spielen?«
»Wenn Sie wollen.« Ich holte meine Würfel für das Ritual des Quatre Cent Vingt-et-un aus der Tasche. Wie diese Zahlen und der Anblick von Würfeln mir die Kriegsjahre in Indochina zurück ins Gedächtnis rufen! Wo auch immer ich in dieser Welt zwei Männer beim Würfeln sehe, fühle ich mich sofort in die Straßen von Hanoi oder Saigon oder mitten unter die zerschossenen Häuser von Phat Diem zurückversetzt. Ich sehe die Fallschirmjäger, durch die Musterung ihrer Uniformen wie Raupen getarnt, an den Kanälen entlang patrouillieren; ich höre das Granatwerferfeuer näherrücken, und vielleicht sehe ich ein totes Kind vor mir.
»Sans vaseline«, sagte Vigot und warf vier – zwei – eins. Er schob mir das letzte Streichholz hin. Den sexuellen Jargon des Spiels hatten alle Mitglieder der Sureté gemeinsam; vielleicht war er von Vigot selbst erfunden und von seinen Untergebenen übernommen worden, freilich ohne auch seine Schwärmerei für Pascal mit zu übernehmen.
»Sous-lieutenant.« Mit jeder Partie, die man verlor, stieg man einen Rang höher – man spielte so lange, bis der eine oder andere schließlich Hauptmann oder Major war. Vigot gewann auch die zweite Partie, und während er die Streichhölzer auszählte, sagte er: »Wir haben Pyles Hund gefunden.«
»Ja?«
»Ich vermute, daß er sich geweigert hatte, die Leiche seines Herrn zu verlassen. Jedenfalls schnitten sie ihm die Kehle durch. Er lag im Schlamm, fünfzig Meter von Pyle entfernt. Vielleicht hatte er sich so weit geschleppt.«
»Sie interessieren sich noch immer für die Sache?«
»Der amerikanische Gesandte gibt uns keine Ruhe. Gott sei Dank haben wir nicht solche Scherereien, wenn ein Franzose umgelegt wird. Allerdings besitzen diese Fälle auch keinen Seltenheitswert.«
Wir spielten um die Aufteilung der Streichhölzer, und dann fing das eigentliche Spiel an. Es war unheimlich, wie rasch Vigot einen Wurf vier – zwei – eins zustande brachte. Er verringerte die Zahl seiner Streichhölzer auf drei, und ich warf die
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