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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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Ich hatte vergessen, den Wecker vom Schrank zu nehmen und ihn einzustellen. So wie Großvater vielleicht damals vergessen hatte, die Uhr aufzuziehen. Ich hatte auch vergessen, mich einzuschließen. Oder nicht, vielleicht hatte ich den Schlüssel absichtlich nicht umgedreht, damit ich im Notfall schneller in der Diele und in Nicoles Zimmer war.
    »Ich habe schlecht geträumt«, erklärte ich. Nicole ging zurück in den Keller, brachte ihre Morgenwäsche zu Ende. Es war alles in Ordnung. Sie war aufgewacht, als Herr Genardy kurz nach fünf das Haus verließ. Sie war gleich aufgestanden, weil sie dringend aufs Klo mußte. Sie hatte kurz zu mir hereingeschaut und einen Blick auf den Wecker geworfen. Sie hatte sich gedacht, es lohne nicht mehr, noch einmal ins Bett zu kriechen, und war hinuntergegangen, um sich zu waschen. Und vorher hatte sie mir noch ihr Aufsatzheft auf den Tisch gelegt. Ich sollte unterschreiben, zum Beweis, daß ich die Zwei gesehen hatte. Der Rest war nur ein Traum, einer von vielen Alpträumen. So früh am Morgen und in der Gewißheit, daß wir allein im Haus waren, sah alles ein bißchen anders aus. Ich machte uns Frühstück. Ich saß mit Nicole am Küchentisch. Ich hörte mir an, daß Denise den Aufsatz mit einer schwachen Vier zurückbekommen hatte. Und innerlich war ich über Nacht ein wenig härter geworden, vielleicht versteinert. Mit einem Mörder unter einem Dach? Völlig ausgeschlossen! Ich doch nicht, das hätte ich doch gefühlt, gleich im allerersten Augenblick, als ich ihm die Tür öffnete. Vorausgesetzt natürlich, ich hatte wirklich eine kleine Antenne für die negativen Ausstrahlungen, und ein Mörder mußte eine sehr negative Ausstrahlung haben. Auf der Fahrt zur Arbeit versuchte ich noch einmal, vernünftig über alles nachzudenken. Und den halben Vormittag tat ich auch nichts anderes. Hedwig war da, sie kam kurz nach mir in den Aufenthaltsraum, ganz normal gekleidet, grauer Rock, helle Bluse, darüber eine leichte Jacke. Die vertauschte sie gegen einen frischen weißen Kittel, dann geisterte sie den ganzen Vormittag wie ein Gespenst zwischen den Regalen umher. Einmal sprach ich kurz mit ihr.
    »Ich kann es mir nicht leisten«, erklärte sie,»daheim zu bleiben. Nachher bekomme ich die Kündigung. Und es muß ja irgendwie weitergehen.« Sie hatte recht, es mußte irgendwie weitergehen. Hinaufgehen vielleicht. An die Tür klopfen. Herr Genardy, ich muß Sie bitten, die Wohnung wieder zu verlassen. Es tut mir sehr leid, aber es handelt sich um einen Notfall. Betrachten Sie es als eine Kündigung wegen Eigenbedarf. Aber ich kann meine Kollegin jetzt nicht im Stich lassen. Ich hoffe, Sie verstehen das. Oder besser noch: Mein Freund und ich haben uns entschlossen, zu heiraten, da brauchen wir die Räume selbst. Vernünftig über alles nachdenken, über Träume und Gefühle, über Pläne. Wie kriege ich ihn raus? Es wird aufhören, wenn er weg ist, ich weiß es. Es hat mit ihm angefangen. Nicole saß jetzt in der Schule. Zwei Stunden Deutsch, danach große Pause. Für mich Frühstückspause, weiterdenken, Regale auffüllen, Ware auszeichnen und immer noch denken. Jetzt ist Schulschluß. Jetzt gehen Nicole und Denise heim. Ich hatte ihr morgens endlich das Donnerstag-Höschen in den Ranzen gepackt, während sie in der Diele bereits ihre Jacke überzog.
    »Da ist ein Höschen von Denise in deinem Ranzen. Gib es ihrer Mutter. Und frag sie, ob sie dein Freitag-Höschen gefunden hat.«
    »Aber das habe ich nicht bei Denise gelassen. Ich habe es Denise auch nicht geliehen. Das muß hier sein.« Meine Mittagspause war fast zu Ende, als Günther anrief. Ich mußte ins Büro des Abteilungsleiters, um mit ihm zu sprechen. Sie sahen das nicht gerne, wenn Privatanrufe kamen. Aber es war das erste Mal, daß Günther mich während der Arbeitszeit zu sprechen verlangte. Da gab der Abteilungsleiter sich noch gönnerhaft großzügig. Nicole aß jetzt bei Frau Kolling zu Mittag, anschließend machte sie zusammen mit Denise die Hausaufgaben. Schnell und korrekt, sauber und ordentlich, wie Frau Humperts es ihr beigebracht hatte. Es war alles in Ordnung, hundertfünfzig Mark mehr im Monat, Wollte ich darauf wieder verzichten? Bis jetzt hatte ich sie noch nicht einmal gesehen, diese hundertfünfzig Mark. Aber wenn ich am Mittwoch zur Bank ging, würden sie auf dem Konto sein. Und nicht nur sie, der Rest auch. Günther war sehr kurz angebunden.
    »Ich komme heute abend noch zu dir. Es wird spät werden, aber

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