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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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Mara so von sich gebe. Aber ich wollte, daß sie es mir sagte.
    »Waren auch andere Kinder da? Hast du gespielt?«
    »Oma.« Und mehr erfuhr ich nicht von ihr. Mutter und Norbert kamen erst kurz nach elf. Sie waren nicht etwa so lange in der Klinik gewesen. Da hatten sie sich bis acht aufgehalten. Dann hatte Norbert auf einem kräftigen Essen bestanden, keine Hausmannskost, zur Feier des Tages ein gutes Restaurant, ein Gläschen Wein. Und Mutter mußte ihn wohl oder übel begleiten. Norbert war ziemlich überdreht. Er riß mich in die Arme, hob mich sogar vom Boden ab und schwenkte mich ein paarmal im Kreis.
    »Du mußt ihn sehen, Sigrid, ein Prachtbursche, sieben Pfund und dreihundert Gramm, zweiundfünfzig Zentimeter, ganz dunkle Haare und eine Stimme, sag’ ich dir!« Mutter kümmerte sich gleich um Mara, die nach meinen vergeblichen Versuchen, etwas von ihr zu erfahren, auf der Couch döste und im Halbschlaf jammerte.
    »Oma.«
    »Da bin ich ja wieder, mein Schätzchen. Hast du mich vermißt? Hm, wie war es denn? Hast du fein gespielt?« Und plötzlich funktionierte es. Mara nuschelte verschlafen ein paar Silben. Ball, Titi, Eis.
    »Sie ist völlig erschöpft«, stellte Mutter fest,»kein Wunder, schau mal auf die Uhr.« Diesmal traf der vorwurfsvolle Blick nicht mich, sondern Norbert. Aber den kümmerte das nicht weiter. Er strahlte immer noch wie ein Tannenbaum voller Neonleuchten.
    »Du hast ein Brüderchen, Moppel, da staunst du, was?«
    »Pulla«, sagte Mara. Und Mutter verstand sie tatsächlich.
    »Du hast doch sicher schon zu Abend gegessen. Aber das ist ein paar Stunden her, nicht wahr, mein Schätzchen?« Kleine Pause, ein liebevoll erhobener Zeigefinger, von der Stimme noch ein wenig unterstützt:
    »Aber was sind das denn für neue Sitten? Pulla! Du bist doch schon ein großes Mädchen. Und große Mädchen trinken nicht mehr aus der Flasche, die essen fein mit dem Löffel. Wenn du noch hungrig bist, macht Oma dir einen leckeren Brei.«
    In der Nacht kam der Braune zu mir. Aber er kam anders als sonst. Ich saß mit Großmutter in ihrem alten Wohnzimmer am Tisch, als er durch die Tür trat. Er ging nicht zur Wand, nahm nicht die Uhr ab. Er setzte sich auf die Couch gleich neben Großmutter, ohne daß die reagiert hätte, wahrscheinlich bemerkte sie ihn gar nicht. Dann nahm er die Kapuze herunter, zeigte mir zum erstenmal sein Gesicht. Ich erschrak nicht einmal, vielleicht hatte ich es immer gewußt. Es war Franz. Er schaute mich lange an. Dann fragte er:
    »Warum hast du bisher nicht nach den Schlüsseln gesucht?« Bevor ich ihm darauf antworten konnte, veränderte sich das Zimmer. Der Schrank wuchs in Höhe und Breite. Der Tisch wurde niedriger und bekam eine Platte aus Marmor. Und Franz saß nicht mehr auf der Couch neben Großmutter. Er saß in dem Sessel, der direkt neben dem Kopfende meiner Couch stand, und hinter Franz hing mein Morgenrock über der Lehne. Franz zog ein Heft unter dem Umhang hervor, ein Schulheft im blauen Schutzumschlag. Franz blätterte darin, legte es aufgeschlagen auf den Tisch, zeigte mit dem Finger auf eine Stelle.
    »Das hat der Mörder geschrieben«, sagte er. Ich sah den Namen auf dem Papier. Hedwig Otten. Ich sah auch, was über dem Namen geschrieben stand. Mietvertrag! Und Franz erhob sich, ging langsam auf die Tür zu. Er öffnete sie, trat in die Diele hinaus.
    »Sie hat wirklich geweint«, sagte er,»sonst hätte ich sie nicht aus dem Bett genommen. Und ich habe nur die Windel kontrolliert. Ich habe ihr nichts Schlimmes getan. Ich hätte ihr doch nie etwas tun können. Dir auch nicht. Ich wollte dir nicht weh tun, das hätte ich gar nicht gekonnt, damals nicht und heute auch nicht. Ich kann dich nur warnen.« Dann stieg er die Treppe hinauf. Ich sah seine Hosenbeine noch ein paar Stufen weit und seine Schuhe unter dem braunen Umhang. Als ich morgens aufwachte, lag das Heft auf dem Tisch. Ich hatte die Augen noch gar nicht ganz offen, da sah ich es schon liegen. Der blaue Schutzumschlag mit dem weißen Namensschild. Ich preßte die Augen noch einmal zusammen, öffnete sie erneut, und es änderte sich nichts. Das Heft lag immer noch mitten auf dem Tisch. Da schrie ich, und gleich darauf hörte ich die eiligen Schritte auf der Kellertreppe. Nicole stürzte ins Zimmer, nur ein Handtuch um die Schultern gelegt, ganz blaß im Gesicht.
    »Mama, was ist denn?« Es war halb sechs vorbei. Der Wecker war nicht abgelaufen. Er stand auch nicht auf dem Tisch, da lag nur das Heft.

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