Der stille Herr Genardy
ein bißchen weinerlich«, erklärte er.
»Sie fragte ständig nach der Oma und wollte heim. Na, das kann man ja verstehen, wir waren doch lauter Fremde für sie. Solange sie noch mit den Kindern herumtollte, hat es sie nicht gestört. Aber sie war wohl auch sehr müde. Im Wagen ist sie dann eingeschlafen.« Er sprach leise, um Mara nicht aufzuwecken. Sie hatte rosige Wangen. Als ich die Decke wegnahm, sah ich, daß auf ihrem T-Shirt ein paar Flecken waren. Große, verwaschene Flecken. Herr Genardy war meinem Blick gefolgt und entschuldigte sich gleich noch einmal. Seine kleine Enkelin hatte Mara in einem unbeobachteten Moment mit Erdbeertorte gefüttert. Da war etwas aufs Hemdchen geraten. Seine Schwiegertochter hatte das Gröbste jedoch gleich ausgewaschen. Da lag Mara mit leicht angewinkelten Beinchen auf meiner Couch. Ihre Hose spannte ein wenig über dem dicken Windelpaket und hatte Grasflecke auf den Knien. Ich wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Herr Genardy erkundigte sich nach Anke und freute sich, zu hören, daß sie es überstanden hatte. Ein Sohn.
»Da wird sich Ihre Mutter ja freuen«, meinte er.
»Bei uns dauert es noch zwei Monate. Meiner Schwiegertochter wird es wohl länger vorkommen. Sie ist in den letzten Wochen doch sehr schwerfällig geworden.« Ich wollte, daß er ging, damit ich mich um Mara kümmern konnte. Nicht erst eine Nacht vergehen lassen wie damals. Die Windeln sofort öffnen und kontrollieren und nicht mit zitternden Fingern diesmal, nur mit kalten. Wenn du sie angerührt hast, bringe ich dich um, ob du nun Franz heißt oder Josef. Herr Genardy machte keine Anstalten zu gehen. Auch gut, dann setz dich von mir aus. Setz dich da in den Sessel und rühr dich nicht vom Fleck. Er konnte anscheinend Gedanken lesen. Und als er dann saß, schaute er mit ernster Miene zu mir auf.
»Ich muß mich wohl bei Ihnen entschuldigen«, sagte er,»daß ich einfach hereingeplatzt bin heute mittag. Es ist normalerweise nicht meine Art, mich in die Privatsphäre anderer einzumischen. Aber ich… Nun ja, Ihre Mutter sprach laut genug, sie war wohl sehr aufgeregt, was durchaus verständlich ist in der Situation. So wurde ich Zeuge Ihrer Unterhaltung, und man muß beide Seiten verstehen, nicht wahr? Ihre Mutter war in Sorge. Sie wollten sich um Ihre Kollegin kümmern. Und ich dachte mir, ob ich nun den Nachmittag mit zwei oder mit drei Kindern verbringe…« Er lächelte wieder. Du solltest dich ebenfalls entschuldigen, Sigrid. Du mußt es ja nicht einmal laut tun. Es tut mir leid, Herr Genardy, ich hatte Sie in einem fürchterlichen Verdacht. Noch nicht. Da ist noch etwas offen.
»Ich habe am Nachmittag versucht, Sie telefonisch zu erreichen«, sagte ich.
»Ich wollte Ihnen mitteilen, daß es bei meiner Mutter sehr spät werden wird und daß Sie Mara zu mir bringen können. Leider habe ich Ihre Nummer im Telefonbuch nicht gefunden.«
»Da steht sie auch nicht drin.« Herr Genardy lächelte wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter einen Frosch in die Badewanne setzen will.
»Der Anschluß ist auf meinen Sohn eingetragen«, erklärte er.
»Früher hatten wir zwei Anschlüsse im Haus. Meine Frau benutzte das Telefon häufig. Sie war ja zuletzt bettlägerig. Es war ihr Kontakt zu den Bekannten und Freunden. Besucht werden wollte sie nicht mehr. Sie sagte immer, man soll mich so in Erinnerung behalten, wie man mich lange Jahre gekannt hat. Nach dem Tod meiner Frau hatte ich keine Ruhe. Ich hatte das Gefühl, alle Welt wollte mir kondolieren. Ich habe es einfach nicht ertragen und den Apparat abgemeldet.«
»Dann hätte ich aber doch Ihren Sohn finden müssen.« Nein, den Sohn hatte ich auch nicht finden können. Es gab für alles eine Erklärung, logisch, vernünftig, rational. Es war nicht sein leiblicher Sohn. Es war der Sohn seiner Frau aus erster Ehe. Aber da er noch so klein gewesen war, als Herr Genardy seine Frau heiratete, hatte Herr Genardy ihn nie anders bezeichnet als seinen Sohn. Und manchmal hatte er sogar vergessen, daß es gar nicht sein leibliches Kind war. Das hatten wir also auch geklärt. Der Sohn hieß Weber. Er trug den gleichen Vornamen wie Wolfgang Beer. Wolfgang Weber. Na schön, ich werde ihn bei Gelegenheit einmal anrufen, deinen Wolfgang Weber. Vielleicht nimmt Günther mir die Arbeit auch ab. Herr Genardy erhob sich aus dem Sessel.
»Ich will Sie nicht länger aufhalten. Es war für Sie gewiß kein angenehmer Nachmittag. Wie geht es Ihrer Kollegin denn?«
»Wie würde
Weitere Kostenlose Bücher