Der stille Herr Genardy
Idee doch nicht so gut. Ich hinkte da wohl auch ein wenig hinter der Gegenwart her. Sah mich im Geist mit einer Hedwig zusammen einen Kuchen backen, die es gar nicht mehr gab. Es war eine Sache, für eine halbe Stunde während der Mittagspause mit ihr zusammenzusitzen. Es war eine ganz andere Sache, sie dann jeden Abend um sich zu haben und dafür zu sorgen, daß sie ein bißchen aß. Sie hatte ein belegtes Brot dabei. Das packte sie nur aus, und dann lag es da vor ihr auf dem Tisch.
»Jetzt iß doch, Hedwig, du mußt etwas essen!«
»Ich habe überhaupt keinen Hunger.« Der weiße Kittel machte sie noch blasser und schien ihr um drei Nummern zu groß. Ihre Finger zupften am Butterbrotpapier und waren so dünn geworden, nur noch Haut und Knochen. Ich nahm ihr das Brot weg, wickelte es wieder ein und schob ihr den Joghurtbecher hin, den ich mir zum Nachtisch geleistet hatte.
»Hier, iß das, es rutscht besser.«
»Aber das ist doch deiner.«
»Jetzt iß schon!« Und das dann jeden Abend, vielleicht sogar morgens schon zum Frühstück. Nein, Sigrid, das kannst du nicht. Mit Günther hatte ich vereinbart, daß ich ihn um halb zwei anrufen sollte. Er war schon mit dem ersten Klingelzeichen am Apparat, klang ein bißchen atemlos.
»Ist er noch gekommen?«
»Nein.«
»Dann hat er garantiert in seiner alten Wohnung übernachtet. Gestern abend war er da, zwar nicht in seiner eigenen Wohnung, aber bei seiner Nachbarin. Dettov hat bis kurz vor elf vor dem Haus gewartet. Da war bei ihm immer noch kein Licht. Vielleicht hast du Glück, und er verzieht sich von selbst wieder. Seine Nachbarin hat anscheinend ein Auge auf ihn geworfen. Bisher konnte er sich wohl nicht für sie entscheiden. Aber jetzt, wo er deine Mutter etwas besser kennengelernt hat, überlegt er sich das vielleicht anders.« Günther lachte einmal kurz. Dann sagte er mir, was Hans Werner Dettov in Genardys ehemaligen Zustellbezirk in Erfahrung gebracht hatte. Es wohnten natürlich nicht mehr alle Leute dort, die Genardy gekannt hatten. Etliche waren verzogen, aber einige erinnerten sich lebhaft. Ein lieber Mensch, der frühere Postbote, immer geduldig, immer freundlich und hilfsbereit. Und so gut zu den Kindern. Er war sehr beliebt gewesen, hatte nicht einfach eine Nachricht in den Briefkasten gesteckt, wie der Neue das tat, wenn man nicht daheim gewesen war, um ein Päckchen in Empfang zu nehmen. Und mit der Nachricht mußte man es sich dann persönlich abholen. Das hatte es bei Herrn Genardy nie gegeben, der war zur Not auch dreimal gekommen. Kannte jeden persönlich, sprach jeden mit Namen an, erkundigte sich nach dem Wohlbefinden von Eltern, Kindern und Enkelkindern, Onkeln, Tanten und Großmüttern, Hunden, Katzen, Wellensittichen und dem Gedeihen von Schrebergärten. Der Garten, in dem man Nadine Otten gefunden hatte, hatte auch dazu gehört. Günther erwähnte es ganz beiläufig.
»Wenn er sich auch heute und morgen nicht bei dir blicken läßt«, sagte er,»dann brechen wir am Samstag die Tür auf. Ich besorge einen Wagen. Wir fahren ihm seine provisorische Einrichtung direkt vor die Tür. Wir tragen sie ihm sogar hinein, wenn es sein muß.«
»Glaubst du, er hat etwas mit dem Mord an Hedwigs Tochter zu tun?« Sekundenlang war es still, als müsse Günther erst noch über meine Frage nachdenken. Dann kam ein Seufzer.
»Er ist bisher nie in Erscheinung getreten, nicht in dieser Hinsicht, du weißt, was ich meine. Und wer so veranlagt ist, der muß doch irgendwann mal auffallen.«
»Franz ist auch nie aufgefallen.«
»Das kannst du doch nicht vergleichen, Sigrid. Franz war nicht allein, Genardy ist es seit ewigen Zeiten. Du mußt auch mal so denken, die Polizei ist nicht blöd. Die schauen sich die Leute schon sehr genau an. Das mit dem Garten kann Zufall sein. Es kann auch sein, daß Genardy mal mit dem Studenten über den Garten gesprochen hat. Sie kannten sich ja gut. Und gegen Genardy liegt nichts vor, absolut nichts.« Plötzlich lachte er.
»Du hast mich schon angesteckt mit deinen Gefühlen. Und Dettov erst, mit dem solltest du dich mal unterhalten. Der ist der Meinung, er ist einem ganz dicken Hund auf der Spur.«
»Aber wenn dir das Kind von solch einem Hund genommen wird«, sagte meine Großmutter. Arme Hedwig, es war nicht deine Schuld, und jetzt iß den Joghurt. Na los doch, ein Löffelchen für Sigrid, ein Löffelchen für Wolfgang, ein Löffelchen für den netten Abteilungsleiter, ein Löffelchen für Herrn Genardy, von dem alle
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