Der stille Herr Genardy
nicht gefiele. Als Nicole nach dem Zähneputzen noch einmal erschien, um endgültig gute Nacht zu sagen, ging er mit ihr in ihr Zimmer. Ich hörte sie da eine Weile miteinander reden und mit irgendwas hantieren. Dann kam Günther und holte einen Küchenstuhl. Er grinste mich im Vorbeigehen an.
»Nur um allen Eventualitäten vorzubeugen«, sagte er.
»Ich bringe ihr gerade bei, wie man einen Stuhl richtig unter die Türklinke klemmt. Aber dazu brauchen wir einen mit vier Beinen und nicht mit fünf Rollen.«
»Bring ihr auch bei, wie sie den Stuhl wieder wegnehmen muß. Ich habe keine Lust, sie morgen früh durchs Fenster herauszulotsen.« Günther lachte. Ich lachte ebenfalls. Der Schlüssel zu Nicoles Zimmertür lag zwischen meiner Unterwäsche im Schrank, zusammen mit dem dritten Wohnungsschlüssel. Ich hatte mir vorgenommen, Nicole einzuschließen, nachdem sie eingeschlafen war. Das tat ich auch so gegen zehn, bevor ich mich selbst hinlegte, obwohl Herr Genardy bis dahin noch nicht im Haus war. Sollte sie brüllen, wenn sie nachts mal aufs Klo mußte. Sie brüllte nicht, schlief mit dem Küchenstuhl unter der Türklinke bis zum Morgen durch. Ich schlief nicht sehr gut in der Nacht. Die Bilder aus Herrn Genardys Schubfach gingen mir nicht aus dem Sinn. Warum hatte ich sie nicht erwähnt, solange noch Zeit dafür gewesen war? Da war wieder so ein Rest Vernunft, der gegen einen großen Brocken ansprach. Man kann es auch übertreiben mit dem Erwachsenwerden. Man kann nicht grundsätzlich alles alleine regeln. Günther gibt sich doch Mühe, das kannst du nicht bestreiten, wenigstens ihm hättest du sagen können, sagen müssen, was du in der Kommode von Herrn Genardy gefunden hast. Er hätte dann schon alles Nötige in die Wege geleitet. Eben! Er hätte. Nach einem halben Jahr hätte er endlich. Und jetzt brauchte ich das nicht mehr, dachte ich. Nicht von ihm und nicht von Wolfgang Beer. Und nicht von Anke und nicht von Mutter. Ich hatte es geschafft. Ich konnte es alleine; ganz allein fertig werden mit Männern, wie Franz einer gewesen war. Daß ich darüber nicht einschlafen konnte, war nicht so wichtig. Fast pünktlich auf die Stunde schielte ich mit einem Auge zum Wecker hinüber. Die Nacht wollte einfach kein Ende nehmen. Zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr, Totenstille im Haus. Und morgen sagst du zu Hedwig: Du kannst schon mal kündigen, Hedwig. Du bekommst die Wohnung. Den Mann, der bei mir eingezogen ist, den werfe ich wieder raus. Das bin ich dir schuldig. Und Hedwig schaut mich aus wunden Augen an und schüttelt den Kopf. Du glaubst doch nicht, daß ich da leben kann, wo er vorher war?! Aber natürlich kannst du, Hedwig. Sieh mal, er ist ja nicht der Mörder, er ist nur ein Zeuge. Und genaugenommen ist er nur ein armer Hund, genauso ein armer Hund wie Franz. Bei Franz habe ich auch so ähnliche Bilder gefunden. Und ich habe auch mal gedacht, Franz hätte sich an Nicole vergriffen, hat er aber nicht. Er hat es mir selbst gesagt, daß er sie nie angerührt hat. Und ich glaube ihm. Warum soll ein Toter lügen? Fünf Uhr. Ich stand auf, ging in die Diele und schloß Nicoles Tür auf. Dann ging ich in den Keller. Hier hat er sich auch herumgetrieben, hat sich gründlich umgesehen und das Höschen mitgenommen. Das muß in der Nacht gewesen sein, als ich ihn so lange da oben herumlaufen hörte. Als er gegen drei seine Tür öffnete. Er ist doch heruntergekommen. Beim Frühstück besprach ich mit Nicole ihren Tagesablauf. Langer Donnerstag, ein Schwachpunkt in unserer Kalkulation. Sie konnte längstens bis um acht bei den Kollings bleiben.
»Du wirst um acht Uhr zu Oma gehen, ist das klar?« Sie nickte, zeigte mir dabei allerdings mit deutlich frustrierter Miene, was ich ihr zumutete.
»Und du wirst dort warten, bis ich dich abhole. Ist das auch klar?« Noch ein Nicken.
»Und wenn Oma sagt, ich soll nach Hause gehen?«
»Gib mir deinen Schlüssel, dann ist das Problem bereits erledigt. Du kannst Oma einen schönen Gruß von mir bestellen. Ich werde ihr bei Gelegenheit mal erzählen, wie kultiviert manche Leute sind. Da werden ihr die Augen übergehen.«
»Was heißt das?«
»Oma weiß schon, was es heißt, das reicht. Jetzt beeil dich, es wird Zeit.« Im Zug überlegte ich, ob ich wirklich schon einmal mit Hedwig reden sollte, vielleicht nur, um sie ein bißchen aufzumuntern. Drei Monate Kündigungsfrist für eine Wohnung. Und ich konnte Hedwig nicht zumuten, drei Monate lang doppelt zu bezahlen. Vielleicht war die
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