Der stille Herr Genardy
seit langen Jahren keinen Kontakt zum Vater. Aber jetzt, nach dem Tod der Mutter, möchte sie ihn gerne wiedersehen. Sie weiß jedoch nur, daß er früher wahrscheinlich bei der Post war. Die Dame war dann sehr mitteilungsfreudig geworden. Genardy war tatsächlich Beamter bei der Post. Er war es bis vor fünf Jahren gewesen, dann hatte er von sich aus gekündigt. Es stand zu vermuten, daß er sich irgendwas hatte zuschulden kommen lassen. Irgendeine Unregelmäßigkeit, jedenfalls etwas, das man nicht gern an die große Glocke hängen wollte. Daß er freiwillig gegangen war, daran glaubte Günther nicht. Ich auch nicht. Das hätte er vermutlich nur getan mit einem besseren Job in Aussicht, und den hatte er nicht gehabt. Er mußte danach eine ganze Weile arbeitslos gewesen sein. Günther strich sich mit einer Hand über die Augen, horchte in Richtung Küche.
»Ich glaube, der Kaffee ist durch. Spielst du für mich mal die Kellnerin?« Während ich ihm den Kaffee aus der Küche holte, kramte er in seinen Hosentaschen nach den Zigaretten.
»Vielleicht solltest du mit diesem Polizisten, diesem, wie heißt er noch, Beer, einmal über Herrn Genardy sprechen. Er ist doch bei der Kripo. Da könnte er seinen Kollegen doch erklären, daß einer ihrer Belastungszeugen nicht ganz astrein ist. Die interessieren sich bestimmt dafür, zu hören, daß er nicht bei seiner Tochter in Norddeutschland war. Daß er statt dessen im Hauruckverfahren gerade mal das Nötigste zusammengepackt hat, als sie zum erstenmal auftauchten.« Wahrscheinlich hatte Wolfgang Beer seine Kollegen längst informiert. Und ebenso wahrscheinlich war das für die nebensächlich. Ein paar kleine Schwindeleien waren kein Fall für die Kripo. Und als Flucht konnte man einen Umzug auch nicht bezeichnen. Ich füllte eine Tasse, und Günther sprach weiter, trank dazwischen in kleinen Schlucken. Genardy war Zusteller gewesen. Was aus ihm geworden war, wußte die freundliche Dame leider nicht. Aber seine frühere Adresse hatte sie Dettov gegeben. Ein Mietshaus, sechs Parteien. Dort hatte er fast zwanzig Jahre lang gelebt. Einer von den älteren Mietern erinnerte sich noch gut an ihn. Genardy war immer allein gewesen. Aber ganz zu Anfang hatte er mal erzählt, daß seine Frau ihn verlassen habe: ein anderer Mann. Die gemeinsame Tochter habe sie mitgenommen. In den letzten Jahren, die er dort gelebt hatte, war er häufig am Wochenende weggefahren, auf Besuch zu Tochter, Schwiegersohn und Enkelkindern. Als er die Wohnung kündigte, gab er an, daß er jetzt zu seiner Tochter ziehe. Möglicherweise hatte er das tatsächlich getan, zwischen seinem Auszug dort und dem Einzug in die Wohnung über der Tierhandlung lag rund ein Jahr. Aber das konnte er auch sonstwo verbracht haben. Günthers Blick wanderte von mir zum Schrank hinüber.
»Hast du den Schlüssel inzwischen gefunden?«
»Nein.« Ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Alles in mir sperrte sich dagegen.
»Und du bist immer noch der Meinung, er hat ihn sich geholt«, stellte er fest.
»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich ihn nur verlegt.« Günther seufzte nachdrücklich.
»Vielleicht«, murmelte er, sprach leise weiter. Bei der Polizei lag bisher nichts gegen Genardy vor. Absolut reine Weste, auch von seinen Nachbarn hörte man nichts Negatives über ihn. Dettov wollte sich am späten Nachmittag in Genardys ehemaligem Zustellbezirk umhören. Wenn er es schaffte, wollte er noch bei mir vorbeikommen. Günther hatte ihm gesagt, wo er zu finden sei. Kleine Pause, winziger Seufzer, es klang ein bißchen nach Erleichterung.
»Ach, da ist noch was, es wird dich sicher freuen, das zu hören. Genardy hat seine alte Wohnung bisher nicht gekündigt.«
»Er hat auch bisher die Miete nicht gezahlt«, sagte ich. Zuerst zuckte Günther nur mit den Schultern, dann erkundigte er sich zögernd:
»Bringt dich das in Schwierigkeiten?«
»Nein. Ich habe ein paar Rücklagen.«
»Gut«, sagte er und nickte einmal kurz dazu.
»Wenn er nicht zahlt, ist das wohl Grund genug, ihn vor die Tür zu setzen. Und du findest einen vernünftigen Mieter, das ist kein Problem.«
»Hedwig wollte unbedingt hier einziehen.«
»Na siehst du, das wäre doch eine optimale Lösung. Jetzt sehen wir erst einmal zu, daß wir ihn auf die Straße kriegen. Wann kommt er gewöhnlich?«
»Kurz nach fünf, nehme ich an.«
»Da haben wir ja noch ein bißchen Zeit«, meinte Günther nach einem kurzen Blick zur Uhr. Es war vier vorbei. Seine Müdigkeit
Weitere Kostenlose Bücher