Der stille Herr Genardy
Haustür stehen, bereit, sofort in den Flur zu treten, falls sich ein Passant nähern sollte oder jemand die Treppen herunterkam. Dabei musterte er das Kind aufmerksam, lächelte und ließ den Blick über die mageren Oberschenkel streifen.
»Wohnst du hier in der Nähe?« fragte er. Das Kind schüttelte nur den Kopf.
»Und warum spielst du dann ausgerechnet hier vor der Tür?« fragte er weiter.
»Ich sehe dich so oft hier.« Das Kind schaute ihn an und zuckte mit den Schultern.
»Ich warte hier auf meinen Freund«, erwiderte es. Eine glatte Lüge, das wußte er sofort. Es gab keine Kinder im Haus und auch in der Nachbarschaft keine, die altersmäßig zu dem Mädchen gepaßt hätten. Er lächelte immer noch, aber seiner Stimme gab er einen Ton von Strenge.
»Warum wartest du dann nicht vor der Tür deines Freundes?« Das Kind kaute auf seinen Lippen herum, senkte den Kopf, wie ihm schien vor Verlegenheit, weil er es bei einer Lüge ertappt hatte. Doch dann hob es das Gesicht wieder, schaute ihm mit einem Ausdruck von Trotz direkt in die Augen.
»Mein Freund wohnt doch hier.« Da ging ihm endlich ein Licht auf. Für einen Moment wurde er wütend, daß ihm anscheinend schon jemand zuvorgekommen war. Er verfluchte sich selbst für sein Zögern, für die übergroße Vorsicht.
»Ah, jetzt weiß ich, wen du meinst«, sagte er ,»da wäre ich an deiner Stelle aber ein bißchen vorsichtig. Sonst hat dich eines Tages die Polizei beim Kragen. Die war schon oft bei ihm. Und einmal haben sie auch ein Mädchen mitgenommen, das habe ich selbst gesehen.« Das Kind starrte ihn an, anstelle von Trotz jetzt deutliches Erschrecken im Blick. Er wußte genau, es würde sich nicht trauen, den jungen Mann aus dem Dachgeschoß nach der Polizei zu fragen. Er lächelte wieder, ganz gütig diesmal und voller Verständnis.
»Davon hat er dir wohl noch nichts erzählt, was?« Als das Kind daraufhin erneut den Kopf schüttelte, fragte er:
»Hat deine Mutter dir denn nie gesagt, daß es gefährlich ist, wenn man so einfach zu einem Mann in die Wohnung geht?« Das Kind schluckte nur heftig. Er ließ es stehen, trat endlich in den Flur, ging zur Treppe und hinauf in seine Wohnung. Und den ganzen Abend verfolgten ihn die mageren Schenkel und die Dreckränder unter den Fingernägeln des Kindes. Er stellte sich vor, er hätte es mit hinaufgenommen. Hätte ein Bad eingelassen. Seine Tochter hatte er in den ersten Jahren oft gebadet. Es war immer ein Vergnügen gewesen, für sie beide! Auch wenn später von seiner Frau und dem Kerl, den sie sich aufgabelte, nachdem sie ihn vor die Tür gesetzt hatte, das Gegenteil behauptet wurde. Von da an ging er ganz systematisch vor. Daß das Haus in einer stillen Seitenstraße lag, kam ihm dabei sehr gelegen. Und er hatte das Kind ganz richtig eingeschätzt, es kam trotz der deutlichen Warnung. Mindestens dreimal die Woche sah er es vor dem Fenster stehen. Wenn sonst niemand in der Nähe war, blieb er ein paar Minuten und sprach mit ihm. Er erfuhr auf diese Weise, daß es täglich einen weiten Weg auf sich nahm. Angeblich kam es jetzt nur noch, um nach den Kaninchen im Schaufenster zu sehen. Es liebe Kaninchen, das sagte es wiederholt. Früher, so behauptete es, habe es selbst welche gehabt, sogar sehr viele. Er ging nicht davon aus, daß es ihm grundsätzlich nur die Wahrheit erzählte. Es neigte ein wenig zu Übertreibungen, das fand er sehr schnell heraus. Aber er konnte doch recht gut abschätzen, wann es ihn belog und wie es um die Wirklichkeit bestellt war. Danach zeigte sich ihm bald ein deutliches Bild. Das Kind war erst Ende des vergangenen Jahres und nur mit seiner Mutter in die Stadt gezogen. Bis dahin hatte es bei den Großeltern in einem Dorf gelebt, und jetzt tat es sich sehr schwer mit der neuen Umgebung. Es hatte die ersten Wochen genutzt, um sie zu erkunden, Kreise gezogen, weiter und weiter, bis es eben von diesem Schaufenster angezogen wurde. Dann hatte der junge Mann aus dem Dachgeschoß es einmal angesprochen und mit zu sich hinauf genommen. Er hatte ihm ein paar Aufgaben für die Schule erklärt, jedoch auch gleich dazu gesagt, daß er nicht immer umsonst helfen könne. Das Kind erzählte gerne. Und anscheinend war es schon froh, daß ihm jemand zuhörte. Alles in allem gefiel ihm, was er hörte. Es war allein, immer nur allein. Die Mutter arbeitete den ganzen Tag, kam am Abend erst lange nach sieben heim und donnerstags noch später. Und wenn sie einen freien Tag hatte, waren andere
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