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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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atmen konnte. Meine Großmutter, die plötzlich Angst vor mir bekam und zu schreien anfing, wenn sie mich sah. Dann hörte ich Franz sagen:
    »Warum soll es das nicht geben? Ich hab’ dir ja schon mal gesagt, du hast was an dir.« Und dann hatte ich Angst vor mir selbst und noch mehr Angst davor, einzuschlafen und zu träumen. Natürlich schlief ich immer irgendwann ein, und ich träumte auch irgendwas. Aber nicht von der Uhr, nicht einmal in den vergangenen sechs Jahren von der Uhr, bis zu diesem Freitagmorgen. Ich wachte auf, da saß ich schon aufrecht, hatte beide Arme ausgest reckt, als ob ich mich noch irgendwo hätte festhalten wollen. Ich war ganz taub im Innern. Wer war jetzt gemeint? Es gab nicht mehr viele, die mir wirklich etwas bedeuteten. Da war im Grunde nur Nicole. Seit ihrer Geburt hatte ich Angst gehabt, daß ihr etwas Furchtbares zustoßen könnte. Seit Franz die Rosen in den Händen gedreht und geflüstert hatte:
    »Jetzt habe ich zwei kleine Mädchen.« Franz hatte ihr nie etwas getan, das hätte er gar nicht gekonnt. Er hatte nicht einmal mit ihr geschimpft, wenn sie etwas angestellt hatte. Es war nur so ein Gefühl gewesen. Die verrückten Gedanken eben, die mir schon als Kind urplötzlich durch den Kopf schossen und grauenhafte Bilder hervorriefen. Ein kleines, wehrloses Kind, verletzt und blutig, vielleicht sogar tot, immer wieder hatte ich das vor mir gesehen, solange Franz noch lebte. Es hatte sich mit der Zeit ganz verloren. Seit Frau Humperts vor knapp sechs Jahren ins Haus gekommen war, wußte ich Nicole bestens aufgehoben. Sie wurde gut versorgt und geliebt, zur Selbständigkeit erzogen, daß ich manchmal das Gefühl hatte, sie sei mir bereits über den Kopf gewachsen. Sie gab nicht viel auf das, was ich ihr sagte. Frau Humperts folgte sie allerdings aufs Wort. Und am nächsten Tag, dem Samstag, wollte Frau Humperts ausziehen. Ins Haus ihrer eigenen Tochter, zu den eigenen Enkelkindern. Sie hatte es mir schon vor Monaten angekündigt, und am Donnerstag abend hatte sie noch zu mir gesagt:
    »Obwohl ich mich so darauf freue, tut es mir fast schon leid.« Ein Freitagmorgen Ende April, kurz nach fünf. Der Wecker hatte noch nicht angeschlagen. Es war still im Haus. Frau Humperts schlief oben, im ehemaligen Kinderzimmer. Nicole schlief seit dem Umbau im Nebenraum, dem ehemaligen Büro, gleich neben der Haustür. Ich schlief seitdem auf einer Klappcouch im Wohnraum. Es war enger geworden, aber das hatte mich nie gestört. Wer war jetzt an der Reihe? Nicole? Allein der Gedanke machte mich verrückt. Und ich redete mir ein, daß es nicht immer nur die getroffen hatte, die ich liebte; manchmal kannte und mochte ich sie nur wie die alten Leute damals. Man kann so schnell denken, so schnell ein paar Namen und Gesichter abhaken. Meine Mutter? Nein, die nicht. Ich war mir sicher, daß ich nicht träumen würde, wenn es um sie ginge. Aber Anke vielleicht! Ich hing sehr an meiner Schwester. Sie war auch so ein praktischer Mensch, den man jederzeit um einen Rat fragen konnte. Wir sahen uns nicht oft, obwohl sie ganz in meiner Nähe wohnte. Aber wir verstanden uns sehr gut, und wenn ich sie brauchte, war sie immer da. Anke hatte vor fünf Jahren geheiratet. Ihr Mann war ein netter Kerl. Wir kamen gut miteinander aus. Und seit der Kontakt zur Familie Pelzer völlig abgebrochen war, war Norbert Meurer mein einziger Schwager. Und der einzige Mann, den ich fragen konnte, wenn irgendwas am Haus gemacht werden mußte. Viertel nach fünf. Zeit zum Aufstehen, zum Duschen. Das letzte, was die Brüder von Franz für mich taten, war, eine Dusche in der Waschküche zu installieren. Manchmal sehnte ich mich nach einer Badewanne und wünschte mir, ich könnte wieder einmal lang ausgestreckt im warmen Wasser liegen. Vielleicht Musik hören, ein bißchen träumen dabei und genau wissen, daß ich nicht gestört wurde, höchstens von Nicole. Aber ich hatte mich daran gewöhnt, in den Keller zu gehen. Man gewöhnt sich an alles, nur nicht an solch einen Traum. Anke? Oh nein, tu mir das nicht an! Vor zwei Jahren hatte Anke das erste Kind bekommen, ein Mädchen, Mara hieß sie. Jetzt war Anke wieder schwanger, hochschwanger, in ein paar Wochen sollte es soweit sein. Ich konnte doch jetzt nicht zu ihr sagen:
    »Paß auf dich auf, ich habe wieder geträumt.« Ich mußte aufstehen, Licht machen. Alte, vertraute Gewohnheiten halfen vielleicht ein bißchen gegen die Panik. Der Griff nach dem Zugschalter der Wandlampe, mit den

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