Der stille Herr Genardy
daß du nach der Schule zu Oma gehst. Frau Humperts muß packen. Sie hat heute keine Zeit für dich.«
»Ich soll ihr beim Packen helfen, hat sie gestern extra gesagt.« Das klang schon leicht gereizt.
»Paß auf der Straße auf!« rief ich noch. Da fiel die Haustür hinter ihr zu. Ich war immer noch ganz lahm vor Angst, nahm meine Tasche, zog den Mantel über und verließ das Haus ebenfalls. Das Gefühl von Ohnmacht hielt sich während der Busfahrt. Die Beklemmung lockerte sich nicht einmal, als ich im Bahnhof eine Zeitung kaufen und in den Zug steigen konnte. Ein paar bekannte Gesichter um mich herum, hier ein flüchtiger Gruß, dort ein Kopfnicken, da ein Lächeln, ein paar belanglose Worte. Über Kinder oder das naßkalte Wetter, über die steigenden Preise für Kinderbekleidung und Lebensmittel. Dann nahm ich mir die Zeitung vor. Die Annonce fand ich sehr schnell.
»Zwei Zimmer…« Das größere davon war unser Schlafzimmer gewesen. Franz hatte es eingerichtet, ganz in Weiß und Blau. Über dem Bett war sogar ein Himmel aus Tüll angebracht.
»Kleine Mädchen sollten in einem Himmelbett schlafen«, hatte er damals zu mir gesagt. Und dem Fußende gegenüber stand der Schrank mit seinen verspiegelten Türen. Zwischen Bett und Schrank stand noch ein Sessel. Manchmal hatte Franz gebettelt, daß ich mich auf seinen Schoß setzte. Ein paarmal hatte ich das auch getan, mit dem Rücken zum Spiegel. Wenn wir im Bett lagen, mußte ich immer in den Spiegel schauen. Es ging gar nicht anders, ich schaffte es nie, die Augen zu schließen, mußte immer hinsehen. Immer hinsehen, wie er auf mir lag. Meine angewinkelten Knie neben seinem Rücken. Ein brauner Rücken, er wurde so schnell braun, am Rücken, an Beinen und Armen, nur sein Gesicht war eher rot. Und wenn ich auf seinem Schoß saß, mußte ich ihm ins Gesicht sehen. Es war nicht gutmütig in solchen Augenblicken. Es verzerrte sich. Überall bildeten sich Schweißperlen auf der Haut. Manchmal hatte ich mir vorgestellt, es sei gar nicht Franz, der mir da zwischen den Beinen herumfummelte. Es sei irgendeiner, den ich nicht kannte, den ich danach nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Dann war es erträglich gewesen. Ich hatte die Möbel verkauft, auch den Sessel, für einen Bruchteil des ursprünglichen Preises, um einen Monat damit zu überleben. Und ich war ein bißchen glücklich darüber gewesen. Franz, hilf mir jetzt! Wer ist es diesmal? Ich wußte in all den Jahren genau, daß er mir von irgendwoher zuschaute. Nicht nur das, daß er immer noch in der Lage war, für uns zu sorgen. Daß er mir Frau Humperts geschickt hatte, daß er die Stelle im Kaufhaus für mich freigehalten und auch darauf geachtet hatte, daß ich wieder mit Hedwig zusammenkam. Franz, Frau Humperts zieht aus, morgen schon. Und ich habe wieder von der Uhr geträumt. Was soll ich jetzt tun?
»… Küche, Diele, Bad, Balkon, an alleinstehende, ältere Dame.« Aber eine zweite Frau Humperts würde es kaum geben. Um alles hatte sie sich gekümmert, nicht nur um Nicole. Um die Fenster und die Bügelwäsche, den Garten und den Mülleimer, oft genug um den Papierkram. Na, lassen Sie mal sehen, Kindchen, was schreiben die denn? Ach, das ist doch kein Drama. Keine Sorge, das kriegen wir schon hin. In der Annonce waren nur der Samstag, die Uhrzeit und die Telefonnummer angegeben. Das Telefon gehörte Frau Humperts. Im Erdgeschoß gab es zwar noch einen Anschluß, aber keinen Apparat mehr. Nach dem Begräbnis hatte der älteste Bruder von Franz mir geraten, alles, was Kosten verursachte und nicht unmittelbar notwendig war, abzuschaffen. Ab zwanzig Uhr. Nicole würde dann in ihrem Bett liegen, und ich würde in der leeren Wohnung neben dem Telefon sitzen und warten. Auf wen? Wer war diesmal an der Reihe? Es konnte nur Nicole gemeint sein. Oder Anke, Norbert, die kleine Mara, vielleicht das ungeborene Baby. Oder Günther? Ja, richtig, ich hatte es versprochen, sogar am Grab geschworen: keinen Mann mehr nach Franz. Fünfeinhalbjahre lang hatte es auch funktioniert. Da hatte ich mir immer wieder gesagt, daß es gar keinen Mann gab, der so war, wie ich ihn brauchte. Von sonntags bis freitags wie Franz und samstags ganz anders. Trotzdem war seit sechs Monaten einer da, Günther Schrade. Ich hatte ihn im Hallenbad kennengelernt. Zufällig, aber es sind doch immer die Zufälle, die ein Leben verändern. Als für Nicole der Schwimmunterricht begann, machte ich es mir zur Regel, mindestens jeden zweiten
Weitere Kostenlose Bücher