Der stille Herr Genardy
unterkriechen, obwohl die mir deutlich zu verstehen gegeben hatte, daß es unmöglich war, oder kämpfen. Für Nicole und für mich, für das Haus, um wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. Kämpfen, ausgerechnet ich! Nein, ich habe nicht wirklich um etwas gekämpft. Ich habe auch nicht einmal eine wirkliche Entscheidung getroffen. Es ergab sich immer irgendwie irgendwas. Und dann sah es eben so aus, als sei es mein Verdienst gewesen. Zuerst gab es ein paar Mark von einer Sterbekasse, ziemlich schnell sogar, damit ließen sich die Beerdigung und die restlichen Möbelraten bezahlen. Es reichte dann noch für ein paar Wochen. Danach sprang meine Schwester ein, so gut sie eben konnte. Anke verdiente schon, doch sie lebte noch bei Mutter, und sie mußte nichts abgeben. Eine Rente bekam ich nicht. Natürlich war Franz versichert gewesen, solange er noch nicht selbständig war. Aber er hatte irgendwas gemacht mit dieser Versicherung. Jedenfalls konnten keine Ansprüche mehr geltend gemacht werden. Und die Rechnungen stapelten sich, die Erinnerungsschreiben der Bank wurden immer massiver und bedrohlicher in ihrem Ton. Ich hoffte, die Brüder von Franz würden mir helfen. Solange er gelebt hatte, waren sie wie eine verschworene Gemeinschaft gewesen. Und nachdem er tot war, merkte ich, wie sie sich von mir zurückzogen. Meine Schwiegermutter wollte gar nichts mehr mit mir zu tun haben. Auch die Brüder kamen nur noch ein paarmal auf einen kurzen Besuch. Der Älteste gab mir ein paar gute Ratschläge, Geld zuviel hatte er auch nicht. Aber er hatte eine Idee. Und ein paar Wochen nach der Beerdigung zogen sie eine Mauer ins Obergeschoß, genau an die Stelle, an der sich zuvor das Treppengeländer befunden hatte. Am Treppenabsatz wurde eine Tür eingesetzt. Sie verlegten Wasserrohre vom Bad ins zweite Kinderzimmer und elektrische Leitungen, an die man einen Herd anschließen konnte. Dann gab ich die Annonce auf.
»Zwei Zimmer, Küche, Diele, Bad, Balkon an alleinstehende, ältere Dame zu vermieten.« Und dann hatte ich Glück. Auf die Annonce meldete sich Frau Humperts. Sie war Anfang Sechzig, ein paar Jahre älter als meine Mutter, aber ein ganz anderer Frauentyp.
»Sie können doch nicht bis an Ihr Lebensende in Ihrer Küche sitzen und grübeln, Kindchen«, sagte Frau Humperts zu mir, kaum daß sie eingezogen war.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Suchen Sie sich eine Arbeit, das lenkt ab, und Sie brauchen das Geld doch. Mit der Miete allein können Sie das Haus nicht halten. Ich passe auf das Kind auf. Ich tu es gern, wirklich, es ist doch ein liebes Kind.« Ein liebes Kind, das war Nicole tatsächlich. Sie war schon sauber damals und sehr verständig für ihr Alter. Man konnte sich richtig mit ihr unterhalten. Meine Mutter sagte
»altklug« dazu, und das klang immer nach einem Tadel. Aber Frau Humperts kam sehr gut mit Nicole zurecht. Auf Frau Humperts Rat hin bewarb ich mich damals um eine Stelle als Verkäuferin, immerhin hatte ich das einmal gelernt. Ich bekam eine Anstellung in der Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses in Köln. Damit schienen die finanziellen Probleme erst einmal gelöst. Ich verdiente anfangs etwa soviel, wie das Haus jeden Monat verschlang. Von der Miete für das Obergeschoß konnten wir leben, Nicole und ich. Wir konnten den elektrischen Strom bezahlen und das Wasser, die Müllabfuhr und die Grundsteuern, die Gebäudeversicherung und die Gebühr fürs Fernsehen. Es war nicht üppig, aber wir kamen zurecht. Wir kamen auch sonst zurecht. Ich lernte, mich damit abzufinden, daß Franz nicht mehr da war, jedenfalls nicht so, daß ich ihn sehen konnte. Ich ging jeden Sonntag nachmittag zum Friedhof und erzählte ihm, was mir so durch den Kopf ging. Und an seinem Grab konnte ich irgendwie freier reden. Da konnte ich ihm sagen, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte. Daß ich mir wünschte, es wäre anders gewesen zwischen uns. Daß ich sehr glücklich gewesen war mit ihm, von sonntags bis freitags. Und daß ich mich für die Samstage verfluchte. Daß es vielleicht nur an dem gelegen hatte, was Hedwig mir früher immer vorgeschwärmt hatte. Von dem Freund, der sie auf der Rückbank im Wagen liebte. Der sie auszog, zuerst die Bluse und den Büstenhalter, der sie anschaute dabei, der ihre Brüste anfaßte und küßte und ihr sagte, daß er ganz verrückt nach ihr sei. Und daß ich mich manchmal gefragt hatte, wie es wohl wäre mit einem Mann, der mir zuerst die Bluse und den Büstenhalter auszog,
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