Der stille Herr Genardy
ganz steif. Und er erklärte weiter. Daß es das alles ja nicht wissen könne, weil seine Mutter mit ihm nicht über solche Dinge spreche. Und weil es auch keinen Vater mehr habe, der, falls die Mutter sich nicht dazu aufraffen oder überwinden konnte, mit ihm über solche Dinge sprach und ihm etwas zeigte. Aber eigentlich sei es die Pflicht der Eltern. Und als Ersatz zeigte er dem Kind auch noch, worauf ein Junge bei der Sauberkeit zu achten hatte. Zuerst schaute es mit einem Ausdruck offensichtlichen Ekels und Schreckens zu Boden. Doch er gab sich ganz ruhig, obwohl es in seinem Innern fast überkochte, sprach in harmlosem Ton weiter, bis das Kind begann, wenigstens mit einem Auge zu seinen Händen hinüberzuschielen. Danach ließ er es in Ruhe, sprach mit ihm nur noch über Menschen. Über gute und schlechte, über solche, die es gut mit Kindern meinten, und solche, die für ein Kind nur Unverständnis hatten und keine Zeit. Solche, die es schlugen, nur weil es ihren Erwartungen nicht entsprach. Und solche, die es streichelten, weil sie mit ihm fühlten, weil sie es bedauerten, weil sie es liebten. Über junge wie den Mann aus dem Dachgeschoß, bei denen man vorsichtig sein mußte, und ältere so wie ihn, denen man vertrauen konnte. Zuerst war das Kind noch merklich zurückhaltend. Es saß auf der Couch und schaute mit unsicherem Blick durch das Zimmer, wobei es darauf bedacht schien, seinem Blick nicht zu begegnen. Doch ganz allmählich taute es wieder auf und erzählte ihm von dem Großvater, der es immer mit in den Garten genommen, der es anschließend auch in die Wanne gesetzt und gewaschen hatte. Und von seinem Vater, der es oft geschlagen hatte. Von der Mutter, die es beschimpfte, nur weil sie das Puppenkleid und eine Uhr gefunden hatte, die es sich von den zusammengesparten Geldscheinen gekauft hatte.
»Dreimal habe ich ihr gesagt, ich habe die Sachen geschenkt bekommen«, sagte es ,»aber sie hat es mir nicht geglaubt.« Der Mann preßte die Lippen aufeinander, aber dann lächelte er gleich wieder.
»Du hast ihr doch hoffentlich nicht gesagt, wer dir die Sachen geschenkt hat. Nicht, daß sie eines Tages vor meiner Tür steht und hier Theater macht. Ich glaube nicht, daß ich viel mit ihr zu tun haben möchte, wenn sie solch ein Drache ist, wie du immer sagst. Oder übertreibst du da ein bißchen?« Das Kind schüttelte heftig den Kopf und behauptete, es würde nie übertreiben und seiner Mutter nie etwas sagen. Dann erzählte es von der Großmutter, der es immer alles hatte sagen können, die es jedoch nicht mehr sehen durfte. Weil der Vater dort war, weil die Mutter Angst hatte. Den Vater wollte es auch gar nicht sehen. Aber es war immer so schön gewesen bei der Großmutter, sie hatte auch immer Süßigkeiten im Schrank gehabt. Und der Großvater hielt Kaninchen im Stall. Und wenn sie Junge geworfen hatten und wenn die nicht mehr nackt und blind waren, hatte es manchmal eins davon mit ins Haus nehmen dürfen, sogar mit ins Bett. Es hätte so gern wieder ein Kaninchen gehabt, aber die Mutter erlaubte es nicht.Meine Gedanken drehten sich unentwegt um Namen und Gesichter, nur die Hände beschäftigten sich sinnvoll. Ein Pausenbrot für Nicole bestreichen, die wenigen Wäscheteile falten und wegräumen, das Bettzeug verstauen, die Couch herrichten, jeden Morgen die gleichen Handgriffe. Noch einen Blick in Nicoles Zimmer. Sie hatte ihr Bettzeug bereits weggeräumt. Auf dem Fußboden lag ein Buch, an der Wand hing ein Poster. Buch und Poster zeigten das gleiche Motiv, Pferde. Nicole liebte Pferde, träumte davon, irgendwann Reitstunden zu nehmen. Es war unmöglich, viel zu teuer. Aber später, irgendwann einmal.
»Wenn ich groß bin und viel Geld verdiene, Mama«, sagte sie immer. Ich verstand nie, woher sie ihre Energie nahm. Nicole war ganz anders als ich, vielleicht der Einfluß von Frau Humperts und das Blut von Franz. Immer selbstbewußt, immer zielstrebig, manchmal war sie mir gegenüber sogar ein wenig gönnerhaft und manchmal ein wenig ungeduldig. So wie an dem Morgen. Sie stand bereits an der Haustür, den Ranzen auf dem Rücken, die Sporttasche mit den Badesachen in der Hand. Seit sie ins dritte Schuljahr gekommen war, fand der Sportunterricht freitags im Hallenbad statt.
»Sorg dafür, daß deine Haare richtig trocken sind, bevor du ins Freie gehst«, rief ich aus der Küche hinter ihr her. Das tat sie nie, ich wußte es.
»Mach ich doch immer.« Das war noch gönnerhaft.
»Und denk daran,
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