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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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fühlte Wut in sich aufsteigen. Immer nur einmal und so viel Mühe vorher, so viel Vorsicht, so viele Ängste. Mit seiner Tochter war es anders gewesen, ganz anders. Die hatte gewußt, daß er sie liebte und ihr nichts Böses tat. Die hatte nicht schreien müssen. Er hatte ihr immer ein paar Tropfen in den Tee geträufelt, den sie vor dem Schlafengehen trank. Da hatte er nachts zu ihr gehen können oder sie zu sich ins Bett genommen. Seine Frau hatte gearbeitet, war immer am Spätnachmittag aus dem Haus gegangen und erst mitten in der Nacht zurückgekommen. Und seine Tochter hatte geschlafen, tief und fest und sanft wie ein Engel. Aber es war völlig sinnlos, sich immer wieder vorzustellen, er könnte eines Tages wieder ein Kind so um sich haben wie sie, Tag für Tag und nachts immer in erreichbarer Nähe, nur von einem Zimmer in das andere.Ich konnte an dem Freitag nicht mit Hedwig über meine Angst reden. Hedwig war nicht da. Es wußte niemand, warum sie nicht zur Arbeit kam. Der Abteilungsleiter war wütend. Er sagte, sie habe sich nicht mal entschuldigt, und das könne man ja wohl erwarten. Ein Anruf hätte schließlich genügt. Er verlangte von mir, daß ich in der Frühstückspause bei Hedwig anrief, aber sie ging auch nicht ans Telefon. Ich dachte, daß vielleicht wieder etwas mit ihrer Tochter war, daß Hedwig jetzt möglicherweise in der Schule saß, auf dem Flur des Jugendamtes oder vielleicht sogar auf einem Polizeirevier. Aber das behielt ich lieber für mich. In der Mittagspause sollte ich es noch einmal versuchen. Wieder nahm in Hedwigs Wohnung niemand den Hörer ab. Der Abteilungsleiter bekam fast einen Tobsuchtsanfall. Ich hätte mir gern einen Tag Urlaub genommen, nur den Samstag. Sonntags würde ich ohnehin daheim sein. Und montags würde nichts mehr passieren. Da war ich mir ganz sicher. Der Sonntag war der dritte Tag. Und es passierte immer nur am dritten Tag, nie früher, nie später. Trotzdem wäre ich samstags lieber daheim gewesen. Es mußte kein Unfall sein, Nicole konnte krank werden. Ich wußte nicht viel über Krankheiten, aber es gab wahrscheinlich mehr als eine, die ein bis dahin gesundes Kind in zwei Tagen dahinraffen konnte. Wenn ich jedoch bei den ersten Anzeichen daheim wäre, wenn ich gleich mit ihr zum Arzt oder ins Krankenhaus fahren konnte. Wenn… Ich war ganz verrückt an dem Freitag, selbst ganz krank. Ich bildete mir schon ein, Nicole hätte morgens, als sie aus dem Haus ging, einen fiebrigen Glanz in den Augen gehabt. Einen Tag Urlaub, mehr brauchte ich nicht. Doch der Abteilungsleiter hatte so schlechte Laune, daß ich es nicht wagte, ihn darum zu bitten. Ich fragte mich nur unentwegt, was wohl damals passiert wäre, wäre ich mit Franz gefahren. Vielleicht wäre Franz nicht so schnell gefahren. Dann wäre ihm nichts geschehen, dann hätte es vielleicht sonst jemanden getroffen. Wenn… Wäre… Hätte… Sonst jemanden – es war ein scheußlicher Gedanke. Doch nachdem er erst einmal aufgekommen war, konnte ich ihn nicht mehr loslassen. Ich überlegte krampfhaft, wer an Nicoles Stelle treten sollte, als ob ich es mir hätte aussuchen können. Mir fiel immer nur Frau Humperts ein; wenn sie auszog, mußte ich ohnehin auf sie verzichten. Als ich abends heimkam, fühlte ich mich fast wie ein Henker. Nicole war so quirlig. Sie hatte tatsächlich einen Glanz in den Augen, aber nicht vom Fieber. Den halben Nachmittag hatte sie mit Frau Humperts eingepackt und zum Abschied noch ein Geschenk bekommen, eine neue Barbie-Puppe im Reitdreß. Während wir zu Abend aßen, erklärte sie mir dreimal, daß es auch ein Pferd für die Puppe gäbe. Leider sei das Pferd sehr teuer, fünfzig Mark würde es kosten. Mein Gott, ich hätte an dem Abend ein Vermögen gegeben für Plastikpferde und Reitstunden, wenn ich damit nur die vergangene Nacht und den Traum hätte auslöschen können. Ich hatte kein Vermögen. Und wenn ich nicht gleich eine Nachfolgerin für Frau Humperts fand, stand uns eine böse Zeit bevor. Ich hatte in den letzten beiden Jahren zwar ein paar Mark auf die Seite legen können, eine Reserve für Notfälle, kleinere Reparaturen am Haus, mal einen Wintermantel für Nicole, mal ein Paar Schuhe. Nicht genug, um davon einmal die Hypothekenzinsen zu zahlen. Und ich hatte die Annonce viel zu spät aufgegeben, das wußte ich selbst. Vielleicht hatte ich auf ein Wunder gehofft. Nicole ging um neun in ihr Zimmer, immer noch mit kühler Stirn. Da war ich soweit, daß ich Günther anrufen

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