Der stille Herr Genardy
habe sogar mit dem Abteilungsleiter geredet, damit der nicht rummeckert, wenn sie mal auftauchen sollte. Aber hast du sie bisher mal hier gesehen? Nein! Ich halte jede Wette, sie treibt sich in der Gegend rum. Jeden Abend frage ich sie, was sie den ganzen Tag über gemacht hat. Denk nicht, daß sie mir mal eine vernünftige Antwort gibt. Sie hat ihren eigenen Kopf. Sie tut, was sie will. Und ich kriege nicht einmal etwas davon mit.« Vor allem in den letzten Wochen hatte Hedwig sich große Sorgen gemacht. Kaum daß wir uns mittags in den Aufenthaltsraum gesetzt hatten, begann sie:
»Ich weiß nicht, was mit Nadine los ist. Irgendwas stimmt nicht mit ihr, ich komme gar nicht mehr an sie ran. Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, sie stiehlt. Mir ist jetzt schon ein paarmal aufgefallen, daß sie irgendwelche Sachen hat. Neue Sachen wohlgemerkt. Sie hat auch oft das Papier von Süßigkeiten in den Hosentaschen. Und soviel Taschengeld bekommt sie nicht, daß sie sich jeden Tag was kaufen kann. Neulich hatte sie so ein Puppenkleid, die Dinger kosten um die acht Mark. Und sie behauptete, sie hätte es geschenkt bekommen. Ich meine, wer soll ihr denn was schenken? Sie kennt doch hier keinen Menschen. Ich habe mal vorsichtig in der Nachbarschaft rumgefragt. Da sieht man sie kaum.« Und donnerstags hatte Hedwig gesagt:
»Wenn ich nächsten Dienstag frei habe, gehe ich zum Jugendamt. Ich gehe erst mal alleine hin. So kann es ja nicht weitergehen. Ich will nicht warten, bis eines Tages die Polizei vor der Tür steht, weil man sie in einem Geschäft erwischt hat. Gestern hatte sie eine Armbanduhr, so ein billiges Plastikding, aber trotzdem. Angeblich hat ihr ein Kind aus ihrer Klasse die Uhr geliehen. Das kann sie erzählen, wem sie will, mir nicht.« Ich war überzeugt, daß Hedwig meine Angst verstehen würde, wenn ich ihr von Frau Humperts Auszug erzählte. Und dann erst von meinem Traum.Als das Mädchen ihn an dem Badetag verließ, hatte der Mann noch den Eindruck, daß alles in Ordnung war. Zuletzt war es doch wieder ganz zutraulich gewesen. Aber als es dann am nächsten Tag und am übernächsten nicht erschien, da wußte er, daß er einen Schritt zu weit gegangen war und sich selbst alles verdorben hatte. Er rechnete fest damit, daß die Mutter bei ihm auftauchen und ihn zur Rede stellen, daß sie ihn beschimpfen würde.
»Was hast du mit ihr gemacht, du Schwein? Wenn du sie noch einmal anrührst, bringe ich dich um.« Im Geist versuchte er bereits, sich darauf einzustellen, was er ihr alles sagen wollte. Was das denn für eine Art sei? Nur zu brüllen und zu toben, gar noch zu schlagen, statt sich einmal ein bißchen Zeit zu nehmen. Er war sicher, daß er sie damit klein machen konnte. Aber die Mutter kam nicht. Es kam auch sonst niemand, um ihn abzuholen. Und dann, es war der Donnerstag, klopfte das Kind kurz nach sechs vorsichtig gegen seine Tür. Wie es ins Haus gekommen war, danach fragte er nicht, dachte gar nicht darüber nach in dem Moment. Er war so ungeheuer erleichtert. In den beiden Tagen hatte er unentwegt darüber nachgedacht, was er tun konnte und mußte, wenn das Kind wider Erwarten doch noch einmal kommen sollte. Das wußte er inzwischen. Er ließ es herein, erklärte jedoch gleich, daß er heute nicht viel Zeit habe. Da sei ein großer Garten, sagte er, um den müsse er sich kümmern. Es werde allmählich höchste Zeit. Er erwähnte auch beiläufig, daß in dem Garten Kaninchen herumliefen, ganz frei und zahm. Das Kind schien enttäuscht und fragte, ob er es mitnehmen könne. Er gab sich unentschlossen. Wie erwartet, bettelte das Kind, versprach sogar, ihm bei der Arbeit im Garten zu helfen. Dem Großvater habe es auch immer bei der Gartenarbeit geholfen, behauptete es. Es bettelte so lange, bis er schließlich zustimmte. An dem Tag trug das Kind eine neue Jacke und meinte, die sollte es dann wohl besser ausziehen, damit sie von der Gartenarbeit nicht schmutzig würde. Es ging wohl nur darum, daß er die Jacke beachtete. Nachdem er eine entsprechende Bemerkung gemacht hatte, fragte das Kind, wie lange sie denn im Garten bleiben würden.
»Nicht sehr lange«, sagte er ,»da ist eine kleine Laube. Ich will da nur ein bißchen aufräumen. Irgendwo muß man ja einen Anfang machen. Es ist wahrscheinlich etwas staubig in der Laube. Du kannst deine neue Jacke ja ausziehen, und wenn dir zu kalt wird, kannst du meine Jacke umhängen.« Dann schickte er das Kind schon einmal voraus, vereinbarte mit ihm einen
Weitere Kostenlose Bücher