Der stille Herr Genardy
ersten Teil, was in der Welt vorging, und im zweiten ein wenig aus der Region. Dann stieß er im Anzeigenteil auf die Annonce.
»Alleinstehende, ältere Dame…« In den letzten Wochen hatte er gar nicht mehr daran gedacht, nach einer hübschen Wohnung in ruhiger Umgebung zu suchen. Da war er zu sehr mit dem Kind beschäftigt gewesen, aber jetzt, wo es nicht mehr da war… Alleinstehende, ältere Dame. Wer so eine suchte, der wollte seinen Frieden, keinen Lärm im Haus, keinen Schmutz. Dann war die Wohnung vermutlich genau das, was ihm selbst vorschwebte. Es war kein Preis angegeben, und allzu üppig war es nicht mit seinem Verdienst. Doch das war seine geringste Sorge. Die halbe Nacht dachte er darüber nach, ob es wohl ein günstiger Zeitpunkt sei, eine neue Wohnung zu nehmen. Es mochte dem einen oder anderen zu denken geben, wenn ein Kind verschwand und gleich darauf ein Mann wegzog. Und der eine oder andere mochte sich auch erinnern, das Kind häufig vor dem Fenster da unten gesehen zu haben. Dann mußte die Polizei zwangsläufig die Hausbewohner befragen. Er war nicht ganz sicher, was er tun sollte, sagte sich dann jedoch, daß es für ihn keinen günstigen und keinen ungünstigen Zeitpunkt gab. Nur eine Verbesserung der Lebensumstände konnte es geben. Und daran war ihm doch sehr gelegen. Es war keine Anschrift bei der Annonce vermerkt, auch kein Name, nur eine Telefonnummer. Die notierte er sich auf dem Zeitungsrand. Es wäre sinnlos gewesen, dort anzurufen. Alleinstehende, ältere Dame. Er mußte persönlich hinfahren, wollte er etwas erreichen. Am nächsten Tag fuhr er zu einer Telefonzelle, suchte die Nummer aus dem entsprechenden Buch. Es dauerte lange, ehe er sie fand, und dabei waren Name und Anschrift vermerkt, wie er es erwartet hatte. Er notierte sich beides, steckte den Zettel ein. Ab acht Uhr abends. Dann war es zwecklos, jetzt gleich hinzufahren. Vermutlich war niemand daheim, und am Abend würde es keine Ruhe geben. Da würde das Telefon läuten, ein Anruf nach dem anderen, er konnte sich das sehr gut vorstellen. Und er konnte sich auch vorstellen, wie gereizt die Vermieter nach einer Weile sein würden. Aber morgen, morgen war Sonntag. Wer immer sich für die Wohnung interessierte, wurde garantiert auf den Montag vertröstet. Und dann war er bereits da gewesen. Es war ein kleines Risiko; immerhin konnte sein persönliches Erscheinen an einem Sonntagnachmittag unangenehme Reaktionen auslösen. Das mußte er auf sich nehmen. Er lächelte, als er darüber nachdachte, daß er schon ganz andere Risiken auf sich genommen hatte. Das Kind zum Beispiel war eines gewesen, ein großes, ein unabwägbares. Aber er hatte abgewägt, hatte alles sorgfältig durchdacht und geplant, keinen unbedachten Schritt getan. Wer nichts wagt, gewinnt nichts, dachte er noch. Dann fuhr er seinen Wagen an eine entlegene Stelle und säuberte den Innenraum so gründlich wie nie zuvor. Dabei fiel ihm das Höschen in die Hände, es lag unter einem der Vordersitze, und er erinnerte sich gar nicht, daß er es an sich genommen hatte. Das jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Die Kontrolle verloren, durchzuckte es ihn! Er hatte noch nie die Kontrolle über sich verloren, davon war er überzeugt. Er versuchte, sich die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Es kamen auch ein paar Bilder. Der Weg zum Garten, die Laube, das Kind an seiner Hand.
»Wo sind denn hier Kaninchen?« Dann der Rausch. Und dann wurden die Eindrücke schwächer, verschwammen zum Ende hin ganz. Merkwürdig, da war eine Lücke. Es hatte noch nie zuvor eine Lücke in seinem Gedächtnis gegeben. Er konnte sich das auch gar nicht leisten. Aber so sehr er sich auch bemühte, er sah sich am Schluß immer nur zum Wagen zurückgehen. Mit leeren Händen. Vielleicht hatte er sich das Höschen in eine Tasche gestopft, unbewußt, so wie man ein zerknülltes Tuch hineinstopft, und es dann später unter den Vordersitz gelegt. Aber vielleicht lag es da auch schon seit langem, seit der letzten Fahrt oder der vorletzten. Manchmal hatte er etwas mitgenommen, über längere Zeit aufgehoben, ein Erinnerungsstück. Er war nicht ganz sicher. Es wäre besser gewesen, den möglicherweise verräterischen Fetzen hier und jetzt und auf der Stelle am Ackerrand zu vergraben. Dazu konnte er sich nicht aufraffen. Es würde sich auch später noch eine Gelegenheit ergeben, das Ding unauffällig loszuwerden. Aber erst dann, wenn er sich wieder genau erinnerte.Ich hatte noch nicht ganz meinen
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