Der stille Herr Genardy
Treffpunkt. Erklärte, er müsse noch rasch einen Sack und eine Taschenlampe aus seinem Keller holen, in der Laube sei kein Licht. Da wurde das Kind ein wenig skeptisch. Ja, wenn es solange dauern würde, bis es dunkel war, dann wollte es doch lieber ein andermal mitfahren.
»Da mach dir nur keine Sorgen«, sagte er ,»ich brauche die Lampe nur, weil die Laube kein Fenster hat. Bevor es dunkel wird, sind wir längst wieder zurück.« Daraufhin verließ das Kind seine Wohnung. Er traf es wenig später draußen auf der Straße, wo niemand ihn kannte und niemand beachtete, daß es in seinen Wagen stieg. Es sorgte sich wieder, ob es auch rechtzeitig daheim wäre. Er schaffte es jedoch, es noch einmal zu beruhigen. Um neun seien sie bestimmt zurück. Und sollte es doch ein wenig später werden, sollte die Mutter versuchen, es zu schlagen, weil es nicht pünktlich daheim war, da würde er schon ein ernstes Wort mit der Mutter reden. Das habe er sich in den letzten beiden Tagen ohnehin vorgenommen, daß er einmal mit der Mutter reden solle, damit sich endlich etwas zum Besseren ändere. Er wisse auch schon genau, was er sagen müsse, um sie zur Einsicht zu bringen. Bei der Gelegenheit vergewisserte er sich gleich noch einmal, daß das Kind bisher nicht mit seiner Mutter gesprochen hatte. Nicht über die Unterschriften im Schulheft – es war nicht bei einer geblieben. Dreimal insgesamt hatte er den Namen Hedwig Otten unter eine Notiz des Lehrers gesetzt. Beim letzten Mal nur noch zögernd, da war ihm plötzlich bewußt geworden, daß es irgendwann auffallen könnte – nicht über die Süßigkeiten und die Geldscheine, nicht über die warmen Füße und das Bad. Bei allem, was er aufzählte, lachte das Kind leise. Nein, es hatte nicht geredet, kein Wort gesagt.
»Ich bin ja nicht blöd«, erklärte es. Er war zufrieden. Dann stellte er den Wagen in einer stillen Straße ab. Er wollte es erneut so machen wie zuvor, daß sie getrennt gingen, daß sie sich dann hinter den letzten Häusern trafen. Aber das Kind verstand nicht, warum, und griff nach seiner Hand. Es machte ihn nervös, aber auch ein wenig glücklich. Er schaute sich aufmerksam um, doch es war niemand sonst auf der Straße, und sie erreichten die letzten Häuser rasch. Er mußte das Kind nicht einmal zur Eile drängen. Es lief mit ausholenden Schritten neben ihm her einen schmalen Feldweg entlang und weiter auf ein paar Lauben zu. Zweimal fragte es:
»Ist es noch weit?« Es sorgte sich wieder, daß seine Mutter vor ihm daheim sein könnte, daß sie Fragen stellte, wo es sich denn bis jetzt herumgetrieben habe.
»Jetzt mach dir doch nicht solche Sorgen«, sagte der Mann ,»heute ist Donnerstag, da kommt sie doch immer sehr spät heim. Das schaffen wir leicht. Und wenn nicht, dann rede ich einmal mit ihr. Sie muß endlich begreifen, daß sie dich nicht für jede Kleinigkeit schlagen darf. Sonst könnte ich nämlich einmal mit dem Jugendamt reden, da bekäme sie aber mächtigen Ärger. Dich den ganzen Tag alleinlassen und dann auch noch verprügeln, in solchen Fällen kennen die vom Jugendamt keinen Spaß. Wer weiß, vielleicht würden sie dich sogar wieder zu deinen Großeltern bringen.« Sekundenlang war das Kind ganz sprachlos; er spürte deutlich, daß es seine Hand fester packte. Aber dann meinte es:
»Lieber nicht, vielleicht stecken die mich auch ins Heim.« Als er dann in den schmalen Gartenpfad einbog, wurde das Kind mißtrauisch.
»Wo sind denn hier Kaninchen?« fragte es. Er deutete zu der Laube hin.
»Da drin«, sagte er ,»es ist doch noch recht kühl draußen. Da läßt man sie nicht gerne im Freien.« Dann öffnete er die Tür, strich dem Kind über das Haar und schob es behutsam vorwärts in den kleinen Raum. Es war nicht viel anders als mit dem Kind, das er zuvor gekannt hatte, wie ein Rausch, der alles andere bedeutungslos machte. Das Mädchen begriff nicht gleich. Und als es begriff, versuchte es, sich zu wehren. Es war ein sinnloser Versuch, der ihn nur Zeit kostete. Er selbst versuchte es noch einmal mit Güte.
»Stell dich doch nicht so an, ich tu dir nicht weh«, sagte er. Daraufhin begann das Kind zu schreien. Er mußte ein wenig heftiger werden.
»Jetzt brüll hier nicht rum, du kleines Biest, sei endlich still.« Es half nicht. Zwar war das Kind für ein oder zwei Sekunden still, starrte ihn aus entsetzten Augen an. Als es dann erneut zu schreien begann, drückte er zu. Und dann war es vorbei. Immer nur so kurz, dachte er noch und
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