Der stille Herr Genardy
damals zurück auf den Tisch gelegt und ihn später irgendwohin geräumt. Ich wußte gar nicht, wo er war. Ich hatte ihn nie gebraucht. Es war nie ein Rohr gebrochen, und Frau Humperts war immer daheim gewesen. Und jetzt war sie weg. Nicole spielte noch mit Denise, als ich bei den Kollings hereinplatzte. Auf dem Heimweg erzählte sie mir, daß Günther ihr gesagt hatte, sie müsse warten, bis ich sie abholte. Ich hatte sie noch nie bei den Kollings abgeholt. Es wunderte mich, daß sie seine Anweisung befolgt hatte. Aber er hatte ihr ja auch noch mehr gesagt, noch viel mehr. Daß ich im Moment große Sorgen hätte, wegen der Wohnung, dem Haus, dem Geld. Daß sie in nächster Zeit ein bißchen Rücksicht nehmen sollte, nicht immer den eigenen Kopf durchsetzen, ab und zu mal tun, was Mama sagt, damit Mama sich nicht noch mehr Sorgen machen muß. Nicole trippelte neben mir her, widerstandslos an meiner Hand, in der freien Hand die Barbie-Puppe, die Frau Humperts ihr zum Abschied geschenkt hatte. Günther hatte ihr sogar von Hedwigs Tochter erzählt und sie gewarnt.
»Günther hat gesagt, Kinder können noch nicht abschätzen, wie gefährlich es ist, allein im Haus zu sein oder in der Stadt herumzulaufen. Er hat gesagt, in Köln ist vor ein paar Tagen ein Kind verschwunden. Und er hat gesagt, es gibt Männer, die warten nur darauf, ein Kind allein anzutreffen. Zuerst sind sie nett, und dann tun sie ihm was.« Ich nickte, weil sie gerade zu mir hochsah. Ich war so erleichtert, ging wie auf Watte, fühlte ihre Hand in meiner und dachte immer nur: der dritte Tag. Wir waren noch nicht ganz daheim; ich konnte es mir noch nicht leisten aufzuatmen; halb konzentrierte ich mich auf die Straße. Irgend etwas konnte noch immer geschehen.
»Und was tun sie dem Kind?« fragte Nicole.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich ganz automatisch.
»Günther hat gesagt, sie vergreifen sich dran. Was ist das?« Sie war doch erst acht, ich konnte ihr das nicht in allen Einzelheiten erklären. Sie wußte, wo die Babys herkommen, hatte ein paarmal an Ankes Bauch horchen dürfen. Ich hatte mehrfach angesetzt, ihr zu erklären, wie sie da hinein und wieder heraus kamen. Aber Nicole hatte nur die Stirn gerunzelt, den Mund verzogen, als ob ich ihr einen Regenwurm auf den Tisch gelegt hätte, und das Thema gewechselt. Ich sagte ihr nur, daß es eben Dinge gab, die ein erwachsener Mann nicht mit einem Kind tun durfte, schlimme Dinge.
Als er sich verabschiedete, klimperten die Schlüssel in seiner Tasche. Er war zufrieden. Mehr als das, er ging zu seinem Wagen, den er ganz am Anfang der Straße abgestellt hatte, und er ging dabei wie auf Wolken, war voller Pläne für die Zukunft. Ein Kind, so klein noch, daß es kaum seinen eigenen Namen nennen, geschweige denn, über andere Dinge reden konnte. Als seine Tochter in dem Alter gewesen war, hatte er mit ihr den Himmel auf Erden gehabt. Zu der Zeit hatte seine Frau zu arbeiten begonnen, erst nur für ein paar Stunden am späten Nachmittag. Und er hatte sich um die kleine Tochter gekümmert. Und die herrliche Zeit nie vergessen. Zwei Jahre lang, sogar noch etwas länger, sorglos und unbeschwert, all die Spiele, die kleinen Hände, der süße Mund. Der winzige Schoß, den er sich hatte aufheben wollen, bis ihn dann eines Abends die Beherrschung verließ. Und wie hatte er davon geträumt, daß diese Zeit eines Tages zurückkäme. Manche Träume erfüllten sich, wenn auch erst nach langer Zeit. Ein Kind und zwei Frauen, harmlos, dumm und gutgläubig die eine, verwirrt und ängstlich die andere. Für ein paar Sekunden kam einmal so etwas wie Unbehagen in ihm auf, vielleicht auch nur ein Bedauern, daß nicht die Ältere im Haus lebte. Mit der hätte es niemals Probleme gegeben. Sie war nicht zu vergleichen mit der Alten, die ihm jetzt noch gegenüber wohnte. Jetzt noch, aber nicht mehr lange. Es ging wirklich bergauf. Es würde auch mit der Jüngeren keine Probleme geben. Er war da zuversichtlich. Vielleicht konnte er ihr gegenüber eine Art väterlichen Freund herauskehren, auf diese Weise irgendwann den Grund für ihre Verwirrung erfahren und sie dann entsprechend behandeln. Und wenn nicht, konnte er ihr immer noch aus dem Weg gehen. Die Vorstellung, mit ihr unter einem Dach zu leben, behagte ihm zwar im Augenblick noch nicht sonderlich, störte ihn jedoch auch nicht weiter. Wie hatte die Ältere gesagt:
»Den ganzen Tag außer Haus.« Günstiger konnte es für ihn nicht sein. Wahrscheinlich kam die Ältere
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