Der stille Herr Genardy
ich, müssen Sie wissen, den ganzen Tag außer Haus. Da geht es uns in erster Linie um einen ruhigen und verläßlichen Mieter.« Irrtum! Um eine ruhige, ältere, zuverlässige Mieterin. Ich wollte keinen Mann im Haus haben. Und uns hatte sie gesagt. Sie benahm sich, als gehöre das alles ihr. Herr Genardy hörte ihr anfangs nur zu. Und wenn Mutter lächelte, dann lächelte er auch, das fiel mir auf. Nun ja, sie mochten im gleichen Alter sein. Meine Mutter war achtundfünfzig, sah aber ein bißchen jünger aus. Sie legte großen Wert auf ihr Aussehen und noch größeren Wert auf den Eindruck, den sie auf Männer machte. Fraulich, nannte sie das. Eine Frau muß fraulich sein. Was auch sonst? Ich war auch nicht männlich. Sie saß auf der Couch, hielt Mara auf dem Schoß. Und zum erstenmal tat sie etwas für mich. Sie erkundigte sich nach den Verhältnissen, in denen Herr Genardy lebte. Ich hätte das vermutlich nicht gekonnt, jedenfalls nicht so geschickt und souverän wie Mutter. Und was immer Herr Genardy an Auskunft gab, es hätte jeden Vermieter in helle Freude versetzt. Er lebte allein, seine Frau war vor zwei Jahren verstorben. An einer schweren Krankheit, nach einem endlosen Todeskampf, von dem er selbst sich immer noch nicht ganz erholt hatte. Er sprach stockend, als ob es ihm sehr schwer fiele, darüber zu reden. Mutter ließ ihn nicht aus den Augen dabei. Und er sie nicht. Etwas an ihm erinnerte mich ständig an Franz, die Manschettenknöpfe vielleicht oder die Art, wie er sprach. Als müsse er die Worte erst noch zusammensuchen. Nur klang es bei ihm eben gewählt und bedächtig, bei Franz hatte es nur nach Unsicherheit geklungen. Franz war immer sehr gehemmt gewesen, wenn er mit meiner Mutter sprach, irgendwie verlegen und gleichzeitig bemüht, ihr nur ja nach dem Mund zu reden. Irgendwann fiel mir auf, daß Herr Genardys Blick oft zu Mara abschweifte. Dann lächelte er immer so entrückt. Er hatte ebenfalls zwei Enkelkinder. Einen Jungen von fünf, ein Mädchen von drei Jahren. Derzeit lebte er noch im Haus seines Sohnes, das ursprünglich sein eigenes Haus gewesen war. Die Schwiegertochter war zum drittenmal schwanger, da wurde bald mehr Platz gebraucht. Und es war ihm auch zu lebhaft, demnächst mit drei kleinen Kindern unter einem Dach zu wohnen. Er lächelte wieder, als er feststellte, daß Mara ein stilles Kind sei.
»Du bist ja ein süßes kleines Mädchen«, sagte er,»ein liebes Kind.« Mich überlief es kalt, als er »kleines Mädchen« sagte. Da war es plötzlich, als ob Franz hinter mir stehe, an einem Samstagabend.
»Soll ich schon mal raufgehen und das Badewasser einlassen, Siggi?« Mara wurde ganz verlegen von so viel Lob, steckte den Daumen in den Mund und drückte das Gesicht gegen Mutters Bluse. Mutter stellte sie auf den Boden und verlangte, sie solle dem netten Herrn ein Händchen geben. Mara genierte sich immer noch. Den Daumen der einen Hand im Mund, die andere Hand ausgestreckt, stakste sie auf Herrn Genardy zu. Der schüttelte ihr die Hand und nahm sie dann auf den Schoß.
»Ein süßes Kind«, sagte er wieder und tätschelte Mara die dicken Beinchen. Mutter lächelte geschmeichelt, als ob er ihr ein Kompliment gemacht hätte. Dann kam sie auf die wesentlichen Punkte zurück. Beruf und Einkommen. Ich saß einfach nur dabei, bekam die Gedanken nicht in die Reihe. Ich wußte, ich hätte mich auf das Gespräch konzentrieren, mir vielleicht schon einmal zurechtlegen müssen, wie ich Herrn Genardy verabschieden sollte. Es tut mir leid, aber… Die Wohnung oben war in sich abgeschlossen, meine war es nicht. Die Brüder von Franz hatten damals nur die Küchentür zur Diele zugemauert. Das Wohnzimmer und Nicoles Zimmer waren direkt von der Diele aus zu betreten. Und wer immer über mir wohnte, er mußte durch die Diele zur Treppe. Ich hatte damals nicht das Geld gehabt für weitere Umbauten, ich hatte es immer noch nicht. Es hatte bisher keine Rolle gespielt, wenn ich nachts noch mal zur Toilette ging und nur im Morgenrock durch die Diele lief. Oder wenn ich hinunter in den Keller ging, um zu duschen. Wir hatten nie die Türen hinter uns abgeschlossen, weder Nicole noch ich, wenn wir uns schlafen legten. Herr Genardy strich über Maras Wangen und gab weiterhin bereitwillig Auskunft. Er war Beamter bei der Post, saß in irgendeinem Amt in Köln. Mutter vermutete später, er sei bei der Oberpostdirektion, mindestens, bei seinen guten Manieren und der gewählten Aussprache.
Weitere Kostenlose Bücher