Der stille Herr Genardy
Gehaltsbescheinigungen hatte Herr Genardy nicht dabei. Aber er war ja auch nur gekommen, um sich die Wohnung einmal anzusehen, unverbindlich. Es fiel ihm nicht ganz leicht, sich überhaupt mit dem Gedanken an einen Umzug zu beschäftigen. Das Haus war schließlich voller Erinnerungen an seine Frau. Andererseits sagte er sich, daß es für ihn vielleicht von Vorteil sein könne, ein wenig Abstand zu gewinnen. Und so nahm er jetzt eben die bevorstehende Geburt des dritten Enkelkindes als Vorwand. Was er suchte, waren vor allem ein gepflegtes Haus und eine ruhige Umgebung. Was er bisher von der Umgebung gesehen hatte, schien ihm zuzusagen.
»Na, dann gehen wir doch hinauf«, schlug Mutter vor,»und Sie schauen sich in aller Ruhe die Wohnung an.« Dann stand er da, mitten in unserem Schlafzimmer. Ich mußte wieder an Franz denken, immer nur an den Samstagabend, immer nur an den Franz, vor dem es mich so oft geekelt hatte. Einmal hatte ich nach der Wäsche seine Socken ins Schubfach seiner Kommode eingeräumt, nicht gestöbert, nichts gesucht. Es waren viele Socken in der Wäsche gewesen, das Schubfach war fast leer, sonst hätte ich wahrscheinlich gar nichts gesehen. Es war ein dünnes Heft, alt und zerlesen. Das Glanzpapier hatte seinen Glanz im Laufe vieler Jahre eingebüßt, auf manchen Fotos fehlte sogar ein wenig von der Farbe. Insgesamt vielleicht zwanzig Fotos, auf jeder Seite eines. Wären es nackte Frauen gewesen, von mir aus auch Paare, die sich miteinander beschäftigten, es hätte mich vielleicht schockiert im ersten Augenblick, weil ich von alleine niemals auf den Gedanken gekommen wäre, daß Franz sich solche Hefte anschaute. Aber ich hätte mich wohl nicht allzusehr darüber aufgeregt. Ich hätte mir sagen können, es ist normal. Er ist ein Mann, er war lange allein. Und Männer schauen sich solche Hefte gerne an, wenn sie allein sind oder in der Ehe zu kurz kommen. Aber es waren keine Paare und keine nackten Frauen. Es waren Kinder in unterschiedlichem Alter. Da war vor allem ein Bild: ein Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren auf einem Stuhl, in einer Position, die es bestimmt nicht freiwillig eingenommen hatte. Den Ausdruck auf dem Kindergesicht habe ich nie vergessen können. Das Kind lächelte; es hätte ebensogut weinen können, so verkrampft wirkte sein Gesicht. Es war so widerlich, zu begreifen. Wir waren seit sechs Jahren verheiratet, gerade ins Haus eingezogen. Vielleicht hatte ich schon lange vorher begriffen und es nur nicht wahrhaben wollen, nicht vor mir selbst und erst recht nicht vor anderen. Franz liebte mich, o ja, er sorgte dafür, daß es mir gut ging, daß ich mir keine Sorgen machen mußte. Aber wenn er mit mir schlief, dann meinte er nicht mich. Und daß er solch ein Heft in einem Schubfach aufbewahrte, wo ich zwangsläufig irgendwann darauf hatte stoßen müssen, das war deutlich genug. Franz wollte, daß ich es wußte. Als er mich vor dem Kino angesprochen hatte, war ich sechzehn gewesen. Und alle sagten, ich sei zu klein für mein Alter, zu dünn, in der körperlichen Entwicklung leicht zurückgeblieben. Ich war noch ein Stückchen gewachsen seitdem, hatte ein paar Pfund zugelegt, einen Busen bekommen, nicht allzu üppig, für meine Figur genau richtig. Franz hatte ihn nie angeschaut, geschweige denn mit den Fingern oder den Lippen berührt. Und ich hatte lange Zeit nicht gewußt, warum, hatte immer geglaubt, daß ich ihm nicht gefiel, daß ich zu dumm war, zu unerfahren, frigide. Das Heft war wie eine Verpflichtung. Nicht für ihn, für mich. Herr Genardy nickte unentwegt, trat auf den Balkon hinaus, prüfte, ob die Tür sich geräuschlos öffnen und schließen ließ, ob sie nicht klemmte. Ein Maßband hatte er auch nicht dabei. Er schritt die Wände ab, nickte wieder. Das gäbe wohl keine Probleme mit seiner Einrichtung, meinte er, einiges müsse er ohnehin neu anschaffen, weil es sich um Einbaumöbel oder Maßanfertigungen handle. Er lachte Mutter an, warf mir ebenfalls einen kurzen Blick zu.
»Ich kann doch meinem Sohn nicht das halbe Haus demolieren. Und wenn ich mich teilweise neu einrichten muß, kann ich mich auch gleich nach den Maßen der Räume richten.« Mit den anderen Zimmern war er ebenfalls zufrieden. Er fragte, ob ein Kellerraum zur Wohnung gehöre. Frau Humperts hatte einen Keller gehabt, den Raum gleich neben der Waschküche. Ich sagte nein. Mutter starrte mich voller Empörung an. Aber sie schwieg wenigstens, vielleicht nur, weil Herr Genardy gleich
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