Der stille Herr Genardy
erklärte, er brauche auch nicht unbedingt einen Kellerraum. Eine Garage sei ihm wichtiger, vielleicht könne er in der Nähe eine mieten. Die Garage stand leer. Franz hatte sie damals nur als Lagerraum für die Fliesen und sein Werkzeug benutzt. Und ich hatte nicht mal einen Führerschein. Ein Fahrrad besaß ich, das stand im Keller, mit zwei platten Reifen. Ich war seit Jahren nicht mehr darauf gefahren. Vermutlich waren die Schläuche inzwischen porös geworden. Dann saßen wir wieder im Wohnzimmer, Mara auf Mutters Schoß. Es ging auf sechs Uhr zu. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Nicole. Ich wollte sie bei den Kollings abholen, unbedingt. Wenn Herr Genardy nur endlich gegangen wäre. Er dachte gar nicht daran. Unterhielt sich mit Mutter über Enkelkinder. Freute sich mit ihr über die bevorstehende Geburt eines weiteren. Mutter tat so, als gäbe es nur Mara und das ungeborene Baby. Nicole existierte gar nicht. Ob sie schon auf dem Heimweg war? Im Geist sah ich Lastwagen, Blut auf der Straße, einen Polizisten vor der Haustür, einen Sarg. Ich war nahe daran, zu schreien. Und irgendwann hörte ich Mutter sagen:
»Wir machen das am besten gleich perfekt. Dann haben Sie auch noch Zeit für die Renovierung. Es sind ja noch ein paar Tage bis zum Ersten.« Es war in dem Moment die einzige Lösung, Herrn Genardy loszuwerden: ihm den Mietvertrag vorzulegen, ebenfalls zu unterschreiben. Ich wollte keinen Mann im Haus haben, wirklich nicht. Ich sagte das auch später noch zu meiner Mutter, als wir schon auf dem Weg waren, sie zu Anke und ich zu den Kollings. Mutter tippte sich bezeichnend an die Stirn.
»Du bist wirklich nicht ganz bei Trost, Sigrid. Was willst du eigentlich? Besser kannst du es doch gar nicht treffen. Ein alleinstehender Mann im Haus stellt längst nicht die Ansprüche wie eine alleinstehende Frau. Du hast ja wohl gesehen, wie die Humperts bei dir das Kommando übernommen hat. Die tat ja gerade so, als gehörte alles ihr. Wie sie da immer im Garten herumgewerkelt hat. Und ihre Waschmaschine hat sie auch in deinen Keller gestellt, in deine Waschküche sogar, oder soll ich sagen dein Badezimmer? Herr Genardy wird seine Wäsche vermutlich aus dem Haus geben. Er wollte ja nicht mal einen Keller für sich.« Mutter hatte einen Narren an ihm gefressen, soviel stand fest. Sie war nach Vaters Tod allein geblieben, ich hatte mich manchmal gefragt, warum wohl. Sie sah doch nicht übel aus, sie hätte bestimmt einen Mann gefunden. Vielleicht war ihr keiner gut genug gewesen. Vielleicht war es ihr gefühlsmäßig so ergangen wie mir. Auf der einen Seite die Sehnsucht und auf der anderen der Ekel. Und jetzt schwärmte sie fast wie ein Backfisch. Bis wir die Ecke erreichten, an der wir uns trennen mußten, hackte sie auf mir herum. Ein gutverdienender Mann in gehobener Position, erstklassige Manieren. Und wie gut sie sich mit ihm unterhalten hatte, während ich nur dabeisaß, als könne ich nicht bis drei zählen. Ich war nicht dazu gekommen, mit ihr über Nicole zu reden, und jetzt war keine Zeit mehr. Ich konnte ein Stück die Straße hinuntersehen, nur bis zur nächsten Ecke. Mutter redete immer noch auf mich ein. Ich fühlte, wie mir plötzlich Tränen übers Gesicht liefen. Und dann schrie ich sie an:
»Ich habe im Moment auch anderes im Kopf, als bis drei zu zählen. Ich habe wieder von der Uhr geträumt. Heute ist der dritte Tag.« Mutter wurde blaß. Sie hatte immer Angst davor gehabt, ich wußte das. Sie hat mich früher nur geschlagen, weil sie Angst hatte. Sie hätte mich auch jetzt gerne geschlagen, ich konnte es von ihrem Gesicht ablesen. Doch aus dem Alter war ich wohl heraus.
»Komm mir nicht wieder mit dem Blödsinn«, fauchte sie. – Dann drehte sie mir den Rücken zu und rauschte mit Mara auf dem Arm davon. Und ich rannte los, die Straße hinunter, um die nächste Ecke. Der dritte Tag! Wenn mich dieser Mensch nur nicht so lange aufgehalten hätte. Erst das ganze Gerede und das Getue mit Mara, dann die Besichtigung, der Vertrag, dann die Schlüssel. Ich hatte ihm vier Schlüssel gegeben, zwei für die Haustür, zwei für die Wohnungstür oben an der Treppe. Frau Humperts hatte auch nur zwei Schlüssel zu jeder Tür gehabt.
»Das macht man so, Kindchen«, hatte sie beim Einzug zu mir gesagt.
»Der Hauswirt behält den dritten Schlüssel für Notfälle. Wenn der Mieter mal verreist ist, wenn ein Rohr bricht oder sonst etwas passiert.« Ich hatte den dritten Wohnungsschlüssel
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