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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
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nur eine Unterhose, sein Rücken war noch feucht. Er stand vor der Wickelkommode. Nicole war neun Monate alt. Sie lag auf der Kommode. Und die Cremedose stand daneben, sie war offen. Franz drehte sich zur Tür, als ich hereinkam. Er hatte ihr anscheinend gerade den Strampelanzug übergezogen, war dabei, den Reißverschluß hochzuziehen. Er schaute mir ins Gesicht, nur einen winzigen, flüchtigen Moment lang. Da war so ein trauriger Ausdruck in seinen Augen. Fast etwas wie Verzweiflung. Er senkte den Kopf auch gleich wieder, nahm Nicole auf den Arm und trug sie zum Bettchen. Und so, mit dem Rücken zu mir, erklärte er:
    »Sie hat geweint. Ich war gerade im Badezimmer, sonst hätte ich es nicht gehört. Ich dachte, sie hat in die Windeln gemacht.« Ich ging zur Kommode und schraubte die Cremedose zu. Die feuchte Windel lag auf dem Boden. Ansehen konnte ich Franz nicht. In der Creme waren seine Finger eingedrückt, große Dellen. Und ich fühlte den Finger in mir, wie er ihn hin und her bewegte. Es begann plötzlich zu brennen. Dafür reichte wohl schon die Erinnerung. Die Seifenreste unter seinen Fingernägeln.
    »Soll ich jetzt baden?« fragte ich. Franz war bereits auf dem Weg zur Tür. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß er den Kopf schüttelte.
    »Heute nicht, Siggi, ich bin zu müde.«
    »Ich möchte aber«, sagte ich,»heute ist doch Samstag. Und letzte Woche haben wir es auch nicht gemacht.« Franz blieb bei der Tür stehen. Er lächelte, aber es war ganz bitter.
    »Laß nur, Siggi, ich bin wirklich müde. Nächste Woche vielleicht.«
    »Nicole ist doch kein Baby mehr«, sagte Anke in meine Gedanken hinein.
    »Wenn sie aufwacht, geht sie aufs Klo, legt sich wieder hin und schläft weiter.« Es war das gleiche Gefühl wie damals, Ohnmacht, Mißtrauen, diese entsetzliche Hilflosigkeit und die Furcht. Nur wußte ich jetzt nicht, vor wem ich mich fürchten sollte. Damals hatte ich es gewußt. Da hatte ich mich unentwegt fragen können: Was hat er mit ihr gemacht? Sie ist doch noch ein Baby. Die ganze Nacht hatte ich wachgelegen und Franz auch. Ich horchte nach nebenan, ob Nicole vielleicht weinte. Und ich sagte mir unentwegt: Eingecremt, er hat sie doch nur eingecremt, damit sie nicht wund wird. Nebenan blieb es still, nur Franz wälzte sich von einer Seite auf die andere. Nicole weinte erst am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit und auch nur nach der Flasche. Als ich an ihr Bett trat, lachte sie mich an, reckte mir die Arme entgegen. Ich gab ihr die Flasche. Und als ich ihr die Windeln öffnete, da zitterten mir die Finger. Er hat sie doch nur eingecremt, er hat ihr nichts getan. Er könnte ihr nie etwas tun. Er liebt sie doch. Ihre Windel war naß, nur naß! Blutspuren gab es nicht darin. Und meine Finger zitterten immer noch. Ohnmacht und Scham. Ob ich mir irgendwann Windeln anziehen mußte? Glattrasiert und eingecremt, um mit der Angst fertig zu werden. Anke war längst bei Mutter angelangt und kam darüber auf Herrn Genardy zu sprechen. Sie wußte bereits alles, was man über ihn wissen konnte, und war auch der Meinung, daß ich froh sein müsse, weil ich so rasch einen Nachmieter gefunden hatte, der noch dazu mehr zahlte. Anke wunderte sich allerdings, daß er jetzt selbst mit der Renovierung weitermachen wollte.
    »Solche Typen haben doch meist zwei linke Hände«, meinte sie,»der muß es ja sehr eilig haben.« Das hatte ich auch. Ich konnte nicht mehr sitzen. Es waren nicht einfach nur Gedanken, es waren Erinnerungen. Es juckte entsetzlich. Es hatte immer entsetzlich gejuckt, wenn die Härchen nachwuchsen. Man kratzt sich nicht zwischen den Beinen! Das gehört sich nicht! Man rasiert sich eben wieder. Man weiß doch, daß er es so braucht, glatte Haut und die Illusion. Und wenn man sich beim Frauenarzt zu Tode schämt, weil man denkt, es müsse einem auf der Stirn geschrieben stehen, warum da unten alles blank ist, man tut es immer wieder. Man tut viel für sein Kind, man zerreißt sich, wenn es sein muß. Man läuft vor der Angst her, schnell und immer schneller, damit sie einen nicht überholt. Man beugt allen Eventualitäten vor, man liebt ihn doch. Ihn und das Kind. Man will nicht, daß er sich unglücklich macht, sich und das Kind. Und das Kind muß man zusätzlich schützen. Seit damals hatte ich keinen Rasierer mehr in die Hand genommen. Für die Beine und die Achseln benutzte ich eine Enthaarungscreme. Aber die Angst war geblieben. Jeder Mann war ein Feind! Norbert war die einzige Ausnahme. Aber er

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