Der stille Herr Genardy
sagen. Die Polizei hätte ihn um Zurückhaltung gebeten, um die weiteren Ermittlungen nicht zu gefährden, na ja, das machen sie schon mal.« Günther war sehr bedrückt, trank seinen Kaffee, rauchte eine Zigarette und zeichnete mit dem Löffel Figuren auf die Tischplatte. Plötzlich sah er mich an und fragte:
»Hast du das Kind gut gekannt?« Ich schüttelte den Kopf. Er grinste flüchtig.
»Aber du kennst die Mutter sehr gut«, meinte er. Ich nickte. Und er zuckte mit den Schultern.
»Ist ja Blödsinn«, murmelte er,»es kommt auch zeitlich gar nicht hin. Das Kind ist nicht erst am Sonntag umgebracht worden. Es war vermutlich schon tot, bevor du von deiner Uhr geträumt hast.« Er drückte die Zigarette aus und seufzte.
»So ein armes Ding, es dreht einem den Magen um.« Er hatte Fotos gesehen. Aufnahmen von der Leiche, scheußlich in ihren Einzelheiten. In der Zeitung würden sie nie erscheinen. Da nahm man eines der Bilder, die Hedwig von ihrer Tochter zur Verfügung gestellt hatte. Aber Günther hatte sie gesehen, und er hatte schließlich auch eine kleine Tochter. Gegen zwölf ging er wieder. Ich hatte ihm immer noch kein Wort von Herrn Genardy erzählt. Es schien auch plötzlich so unwichtig. Hundertfünfzig Mark mehr im Monat, Nicoles Betreuung sichergestellt. Ein paar krause Gedanken, ein paar diffuse Ängste, ein paar ekelhafte Erinnerungen, manchmal ein unheimliches Gefühl, aber nichts Konkretes. Bei Hedwig war es jetzt konkret. Alle Hoffnung umsonst, aus, vorbei, endgültig möglicherweise.
»Aber wenn einem das Kind von solch einem Hund genommen wird«, sagte meine Großmutter,»das überlebt man nicht.« Obwohl es schon so spät war, kam ich nicht zur Ruhe. Bis kurz vor drei lag ich wach, wälzte mich von einer Seite auf die andere und sah im Geist immer nur die leere Scheibe der Uhr. Zweimal hörte ich Schritte über mir. Herr Genardy lief im Wohnzimmer herum. Dann hörte ich, daß er die Wohnungstür öffnete. Und etwas in mir verkrampfte sich. Ich horchte angestrengt. Die Treppenstufen waren aus Marmor, Schuhe klapperten darauf. Franz war früher oft auf Socken heraufgekommen, um mich nicht zu wecken, wenn ich schon schlief. Franz! Und dann war er ins zweite Ehebett gekrochen, hatte manchmal auch die Decke angehoben und war noch ein Stückchen näher zu mir gerückt. Eine Hand für mich, eine Hand für sich selbst. Und ich hatte so getan, als würde ich schlafen. Steh auf, Sigrid! Tu es nicht so wie damals. Tu nicht so, als ob du schläfst. Tu lieber so, als müßtest du noch mal aufs Klo. Jetzt komm schon, steh auf! Du mußt aufstehen! Du mußt nachsehen, warum er die Tür geöffnet hat. Nicole zog sich immer die Decke bis ans Kinn, immer! Sie hatte sich noch niemals freigestrampelt, noch nie! Und im Schlaf gesabbert hatte sie auch noch nie, jedenfalls nicht so, daß ich es bemerkt hätte. Allein die Decke zurückzuschlagen war ein Kraftakt, und ich hatte kaum Kraft in den Armen. In den Beinen noch weniger. Den Morgenrock überziehen und dann in die Diele. Es war alles dunkel, es war alles still. Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Oder er hatte die Tür wieder geschlossen, genau in dem Moment, in dem ich meine öffnete. Jetzt mach dich nicht völlig verrückt, Sigrid. Er hat sie gar nicht geöffnet, du hast es dir nur eingebildet. Du magst ihn nicht, gib es doch zu. Und es gibt keinen vernünftigen Grund. Er hat dir nichts getan. Er ist ein netter und verständnisvoller Mensch. Daß er dich ständig an Franz erinnert, dafür kann er nichts. Und wieder Freitag. Ich war hundemüde, und Nicole wollte nicht aufstehen. Zweimal rief ich nach ihr, bekam keine Antwort. Ich mußte sie rütteln, ehe sie endlich aus dem Bett kam. Statt Milch gab ich ihr einen Kaffee zum Frühstück. Es fiel so verdammt schwer, sie zu fragen.
»Als du geträumt hast, einer von Denises Brüdern wäre bei dir im Zimmer gewesen, kann es vielleicht sein, daß Herr Genardy bei dir war?« Sie starrte mich aus kleinen und verständnislosen Augen an.
»Du hast doch gesagt, du warst bei mir.«
»Ja«, sagte ich nur. Der Kaffee machte sie ein bißchen munter. Munter genug jedenfalls, um herumzuquengeln. Sie suchte nach dem Handtuch, das sie immer mit ins Hallenbad nahm. Es war ein besonderes Handtuch mit einem Fohlen darauf. Frau Humperts hatte es ihr zum letzten Geburtstag geschenkt. Und jetzt war es noch in der Badetasche, zerknautscht, mit ein paar Stockflecken, die garantiert beim Waschen nicht wieder rausgingen. Ich gab
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