Der stille Herr Genardy
einzige, die sich darüber wundert. Mein Sohn schlägt mir mindestens einmal in der Woche vor, mir endlich einen Neuwagen zuzulegen. Man müsse sich ja schämen, sagt er immer, wenn die Kiste vor der Tür steht. Aber für mich ist es keine Kiste.« Dann erklärte er mir, das alte Auto bedeute ihm sehr viel. Er habe diesen Wagen schon gefahren, lange bevor seine Frau erkrankt sei. Sie hätten darin so manche herrliche Urlaubsreise angetreten. Er könne sich einfach nicht davon trennen, weil so viele schöne Erinnerungen damit verbunden seien. Ich nickte nur. Vielleicht bewunderte ich ihn auch ein klein wenig, weil er es geschafft hatte, sich nur die schönen Erinnerungen zu bewahren. Während er sprach, schaute Herr Genardy unentwegt über meine Schulter. Schließlich stellte er fest, dies sei gewiß das Zimmer meiner kleinen Tochter und daß ich ja sonntags gar nicht erwähnt hätte, in welch reizender Gesellschaft er hier leben würde. Eine hübsche junge Frau und ein so wohlerzogenes Kind. Er habe sich gestern ein paar Minuten lang mit meiner Tochter unterhalten und sei aus dem Staunen gar nicht herausgekommen. Allein die Ausdrucksweise und so selbstbewußt. Und so bescheiden, das habe er schon montags festgestellt, als er Nicole und ihre kleine Freundin in die Eisdiele eingeladen habe.
»Sie hat mir davon erzählt«, sagte ich. Herr Genardy nickte, lächelte weiter.
»Das dachte ich mir. Wenn man mit einem Kind seit so langen Jahren alleine lebt, muß sich zwangsläufig ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis aufgebaut haben. Aber das klang ja jetzt fast, als seien Sie nicht ganz einverstanden gewesen«, meinte er.
»Ich gebe zu, ich war da wohl etwas voreilig. Aber als ich die Kinder auf der Terrasse spielen sah…« Er brach ab, legte den Kopf ein wenig zur Seite, sein Lächeln bekam einen Hauch von Wehmütigkeit.
»Es ist nicht ganz einfach für mich«, seufzte er,»ich bin es gewohnt, Kinder um mich zu haben. Wissen Sie, ich war wirklich ein klein wenig erleichtert, als ich Ihre Tochter sah. Ein Haus ohne Kinder, das lebt gar nicht richtig. Da habe ich ganz spontan die Einladung ausgesprochen. Mir ist nicht der Gedanke gekommen, daß ich erst Ihr Einverständnis einholen müßte. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel.«
»Nein«, sagte ich, und in dem Moment meinte ich es auch so. Und er meinte, ich könne stolz sein auf meine Tochter, vor allem deshalb stolz, weil ich sie doch allein erzogen hätte, neben Beruf und Haushalt. Er hoffe nur, daß seine Enkelkinder eines Tages genauso sein würden, so offen und ohne falsche Scheu, dabei jedoch durchaus zurückhaltend einem Fremden gegenüber und auch nicht darauf aus, alles haben zu müssen. Ich hätte ihm sagen müssen, daß es nicht mein Verdienst war, sondern einzig und allein das von Frau Humperts. Aber dann dachte ich, daß es ihn nichts anging, daß er doch nur mein Mieter war, kein Mensch, dem ich irgendwie Rechenschaft schuldete. Bevor er zur Treppe ging, erklärte er mir noch, was mich am meisten interessierte. Warum er gleich montags eingezogen war.
»Ich hatte mir das ein wenig anders vorgestellt«, sagte er lachend,»aber ich habe ja noch Glück gehabt. Zwei Malerbetriebe wollten mir einen Termin geben, da wäre ich zu Weihnachten noch mit dem Umzug beschäftigt gewesen. Der dritte war bereit, die Arbeit sofort in Angriff zu nehmen. Und wenn man sich einmal für eine Sache entschieden hat, sollte man sie nicht zu lange hinauszögern. Die Maler kamen gleich gestern früh, da waren Sie schon aus dem Haus. Leider sind sie nicht ganz fertig geworden. Sie wollten natürlich heute weitermachen. Aber Sie wissen vielleicht, wie das ist, wenn man nicht persönlich dabeisteht. Und mehr als zwei freie Tage konnte ich zur Zeit nicht mit meinem Dienst vereinbaren. Na, es macht nichts«, er winkte ab.
»Die gröbste Arbeit ist erledigt, mit dem Rest muß ich mich jetzt selbst auseinandersetzen.« Endlich setzte er den ersten Fuß auf die unterste Treppenstufe und seufzte.
»Ich habe mich gleich Montag behelfsmäßig eingerichtet. So kann ich nach Feierabend ein wenig für Ordnung sorgen. Fragen Sie mich nicht, was für einen Dreck sie mir hinterlassen haben.« Dann hörte ich ihn zum erstenmal oben hin und her laufen, einfach immer nur hin und her, als ob er nervös wäre und nicht stillsitzen könnte. Er räumte wahrscheinlich nur den Dreck weg, von dem er gesprochen hatte. Es waren andere Schritte als die von Frau Humperts, und trotzdem war es
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