Der stille Ozean
wahrscheinlich hatte er auch unterwegs getrunken. Ascher mußte sich anstrengen, um ihm folgen zu können, seine Erzählung war überdies nicht fließend, so daß er immer wieder Fragen stellen mußte. Er verriet Ascher zuerst sein Geburtsdatum, von Beruf sei er Landarbeiter gewesen, nun wohne er im Weingebiet, in Gamlitz. Ascher hatte nachgerechnet, daß er ungefähr siebzig Jahre alt war. Er sei der Onkel des Bräutigams, sagte der Mann. Er sei zum zweitenmal verheiratet, seine Frau sei jedoch nicht mitgekommen. Insgesamt habe er fünf Kinder, erklärte er. Zuletzt habe er bei seiner Tochter gewohnt – er habe einen Baugrund gekauft und einen Teil seiner Ersparnisse dem Schwiegersohn für den Hausbau gegeben –, er habe sich aber mit seiner Tochter so schlecht vertragen, daß er ausgezogen sei und sich ein Haus in Gamlitz erworben habe … Er nahm einen großen Schluck und wischte sich sorgfältig den Mund ab. Einen Augenblick dachte er nach, dann fuhr er fort, daß er fast sechs Jahre im Krieg gewesen sei. Während der Kriegszeit habe er immer eine Schnapsflasche im Brotbeutel mit sich geführt, alle Zusatzlebensmittel wie Schokolade oder Karamellen habe er gegen Schnapsrationen eingetauscht. Den Schnaps habe er vor jedem Angriff getrunken. Insgesamt habe er achtzehn Nahkämpfe hinter sich gebracht und sei einer der sechs Überlebenden seiner Kompanie gewesen. »Aber glauben Sie mir«, ereiferte er sich, »nach dem Kriegsende bin ich noch ein Jahr aus meinen Träumen aufgeschreckt, einmal im Winter nur mit der Unterhose bekleidet aufgesprungen und in die kalte Nacht gelaufen, weil ich mir eingebildet habe, die Russen greifen an.« Die Ernährung bei Kriegsende sei katastrophal gewesen. Das Brot zum Beispiel sei so hart gewesen, daß man es habe längere Zeit einstecken müssen, bis es ein wenig aufgetaut sei, so daß man mit den Zähnen an ihm habe schaben können. Sein erster Schlag sei gewesen, daß einer seiner Brüder gefallen sei, und zwar am 9. Juli 1943, er wisse das noch genau, erst einen Monat später habe er das Telegramm mit der Nachricht erhalten. (Insgesamt habe er vier Brüder gehabt.) Ein anderer habe im Krieg einen Kopfschuß erlitten und lebe nun in Leutschach bei seiner Frau. Ein anderer Bruder wiederum habe ein Bein verloren, da er zuckerkrank sei, und jetzt sei er drauf und dran, auch das zweite zu verlieren – er befinde sich im Krankenhaus und es gehe ihm schlecht. Er nickte vor sich hin, und als Ascher ihn nach den Arbeiten fragte, die er verrichtet habe, sagte er, daß er zuerst beim Bauern Gampl Franz gearbeitet habe, und zwar zwölf Jahre. Die gesamte Familie habe mithelfen müssen. Vor dem vierzehnten Lebensjahr hätten die Kinder Vieh halten, nachher voll mitarbeiten müssen. Dafür hätten sie die tägliche Verpflegung bekommen. Er selbst habe darüber hinaus einen Schilling pro Tag erhalten, seine Frau fünfzig Groschen. Das sei 1931 gewesen und habe bis Kriegsanfang gedauert. Der Arbeitgeber Franz Gampl sei ein Weinbauer bei Leutschach gewesen und habe noch drei Knechte und zwei Mägde beschäftigt. Nach dem Krieg habe er dann hauptsächlich im Gut Anthofen gearbeitet. Für 55 Arbeitstage, die er und seine Frau hätten helfen müssen, hätten sie Quartier und das Holz für den Winter bekommen. Die Kost aber hätten sie aus eigener Tasche bezahlen müssen. Zu diesem Zeitpunkt seien die Kinder schon von zu Hause weggezogen gewesen. Seine erste Frau sei sechs Jahre nach dem Kriegsende im Alter von 40 Jahren an einer Herzkrankheit gestorben. Nicht ein ganzes Jahr nach dem Tod seiner Frau habe er wieder geheiratet, er sei damals 41 Jahre, seine Frau 38 gewesen. Sie habe ein Kind in die Ehe mitgebracht. Von 1952 bis 1956 sei er in der Nähe von St. Ulrich beim Bauern Pommer beschäftigt gewesen. Sechzig Tage im Jahr habe er für das Quartier arbeiten müssen, die restliche Zeit sei er – wie schon vor dem Krieg – auf dem Gut Anthofen dem Tagewerk nachgegangen. Als Landarbeiter habe er pro Tag 25 Schilling bekommen. Der Arbeitstag habe von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends gedauert. In dieser Zeit sei ihm eine Pause von zehn Minuten zum Jausnen und eine Mittagspause von einer halben Stunde genehmigt worden … Selbstverständlich habe auch der Samstag zu den Arbeitstagen gezählt. Nur die Sonntage seien frei gewesen, dafür habe er die Kost selbst bezahlen müssen. Er habe sich das Geld für ein Winzerhaus und für die Kranken- und Pensionsversicherung, die er freiwillig
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