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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Füße. Endlich erschien der Pfarrer. Er habe die Hochzeit mit Verspätung erwartet, wie es hier oft üblich sei, sagte er. Er ging in das Haus zurück und schickte die Köchin um die Ministranten, den Orgelspieler und die Sängerinnen. Dann bat er Hofmeister, in der Kirche Platz zu nehmen. Vorher müßte jedoch das Brautpaar im Pfarrhaus die Formulare unterschreiben. »Wir können in die Kirche gehen!« rief Hofmeister laut. Die Hochzeitsgäste warteten schweigend im Freien, bis der Orgelspieler und die Ministranten, die bereits auf dem Weg waren, ihren Platz in der Kirche eingenommen hatten. Erst als das Orgelspiel durch die geöffnete Tür zu hören war, setzten sie sich in die Bänke. Den Orgelspieler hatte Ascher nicht sofort wiedererkannt, es war der Schlächter gewesen, den er bei der Witwe gesehen hatte.
    Er stand vor der Kirche und sah durch eine Fensterscheibe, wie der Pfarrer sich die weiße Hochzeitssoutane anzog. Bevor er jedoch aus dem Haus trat, spazierte Ascher zum Kirchenwirt. In einer Ecke spielte der Landarbeiter mit einem dicken Mann Karten. Der Mann hatte schütteres Haar, einen großen Kopf, kräftige Hände und war städtisch gekleidet. Ascher war froh, den Landarbeiter wiederzutreffen und fragte, ob er sich an seinen Tisch setzen dürfe. »Warum nicht?« fragte der Mann zurück, ohne aufzublicken. An der Brust, bemerkte Ascher, trug er ein großes, schwarzes Kameradschaftsbundabzeichen. Er schien mit dem kräftigen Mann gut bekannt zu sein. Nach dem Spiel legten sie die Karten auf den Tisch, und der fremde Mann sagte, er sei Nationalsozialist geblieben. Der einzige, der etwas für die Bauern getan habe, sei Hitler gewesen. »Wer hat die Kinderbeihilfe eingeführt? Wer hat uns vor dem Krieg – als wir schon aufgeben wollten – unsere Schulden erlassen?« fragte er. Als Ascher ihm widersprach, sagte er scharf: »Ich bin für Diktatur.« Der Landarbeiter stimmte ihm zu. »Hören Sie«, sagte er und rückte näher, »ich war vor dem Krieg bei der SA, ich weiß, wovon ich spreche!« Ascher wollte ihm sagen, daß er keinen Wert darauf legte, weiter mit ihm zu sprechen, aber der Mann übertönte ihn. Was Ascher zusätzlich irritierte, war, daß der Landarbeiter den Mann laut unterstützte. Hatte dieser einen Satz beendet, dann fügte er ein »jawohl!« hinzu. Schließlich stand Ascher auf und setzte sich an einen anderen Tisch, worauf ihn der Mann in Ruhe ließ. »Mir kann man nichts erzählen!« rief er aber noch einige Male zu Ascher herüber. Ascher war diese Szene nicht neu. Er fragte sich jedoch, weshalb der. Landarbeiter dem Mann recht gegeben hatte. Er wußte keine Erklärung, als daß er sich schwer zurechtfand und klare Anweisungen wünschte. Möglicherweise wollte er genau wissen, was richtig war und was falsch. In einer Diktatur wußte er genau, was gewünscht wurde. So konnte er sich richtig verhalten und den Eindruck gewinnen, daß er zu etwas nutze war. Im wesentlichen wollte er wahrscheinlich alles richtig machen und dafür belohnt werden. Auch die Gleichgültigkeit war wie das Versagen einer Anerkennung. Erzogen und angehalten zur Abhängigkeit, schien er sie nun, während er sich dem Ende seines Lebens näherte, zu vermissen. Vielleicht hatte er die Abhängigkeit als etwas Unveränderliches hingenommen, hatte mit ihr gelebt, so daß er nicht mehr begriff, sondern nur noch ahnte, was mit ihm geschehen war. Er wollte vielleicht auch sein Leben nicht mehr so sehen, wie er es empfunden hatte, wofür hatte er es dann überhaupt gelebt? Nur, indem er die Macht anerkannte, wurde er selbst anerkannt, indem er diente, erwarb er sich kleine Freiheiten. Je mehr Ascher darüber nachdachte, desto mehr ahnte er, was die Anerkennung für ihn bedeuten mußte.
    Die Hochzeitsgäste waren aus der Kirche gekommen und nahmen im Hof des Gasthauses Aufstellung. Dort hatte der Wirt eine Reihe Sessel, Bänke und Tische hergerichtet, Ascher ah, wie Alte und Junge auf die Tische kletterten und die Verwandten sich auf die Sessel niederließen. Der Wirt hatte eine Kamera mit einem Stativ vor der Gruppe aufgebaut und gab Anweisungen. Zuletzt sah Ascher, der die ganze Zeit über aus einem Fenster geblickt hatte, wie die Musikanten sich zu Füßen des Paares auf den Boden legten. Jedesmal, wenn der Wirt fotografiert hatte, lachten alle auf, beim Fotografieren war es still. Die Gesellschaft kehrte aber noch nicht ein, sondern fuhr zu Gasthäusern in der Umgebung, wo getrunken wurde. Auch der Landarbeiter und der

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