Der stille Sammler
Berg in der Gegend. Jessica ging gerne in den Bergen wandern.«
Unsere Unterhaltung geriet ein wenig ins Stocken.
»Wann fliegen Sie nach Hause?«, fragte ich ihn schließlich.
Er zögerte. Dann antwortete er vorsichtig, beinahe zaghaft: »Morgen. Ich habe einen Frühflug gebucht.«
»Wollten Sie sich nicht verabschieden?«, fragte ich erstaunt. Erst Sigmund, und jetzt Zach, dachte ich. Was sollte das alles? »Wie kommen Sie zum Flughafen?«
»Äh … mit dem Taxi.«
»Lassen Sie mich das übernehmen. Um wie viel Uhr?«
»Nicht nötig.«
»Ich bestehe darauf, Zach.«
Ich hörte, wie er den Hörer ablegte. Offensichtlich war er in seinem Hotelzimmer. Kurze Zeit später war er wieder am Apparat. »Mein Flug geht sehr früh, um sechs Uhr fünfzig.«
»Schön, dann bin ich um halb sechs bei Ihnen«, sagte ich.
Carlo hatte seine Wittgenstein-Biografie in den Schoß gelegt. Meine eigene Lektüre hatte ich schon seit einer Weile beiseitegelegt. Der Roman war nicht spannend genug, um mir bei der Flucht aus der Wirklichkeit zu helfen.
Carlo streckte den Arm aus und nahm meine Hand. »Was ist los mit dir, Hari?«, fragte er noch einmal.
Also erzählte ich ihm alles.
Oh nein, kein Wort von einem Mann, der lebenslänglich ins Gefängnis gehen würde, weil er eine Mumie zum Sex missbraucht hatte. Kein Wort von einem Serienkiller, der mich die letzten dreizehn Jahre verfolgt hatte, der sehr wahrscheinlich noch auf freiem Fuß war und noch immer munter mordete, falls Sigmunds Hypothese stimmte. Kein Wort davon, dass jemand offenbar darauf aus war, mich ermorden zu lassen, und dass er vermutlich einen zweiten Versuch unternehmen würde, weil es beim ersten Mal nicht geklappt hatte. Und ganz bestimmt kein Wort von dem toten Gerald Peasil unten im Flussbett und davon, dass ich die Spuren verwischt hatte. Warum ich nichts darüber sagte? Weil ich sicher war, dass Carlo nicht mehr mit mir zusammenleben konnte, wenn er erfuhr, wozu ich fähig war.
Ich erzählte ihm von einem Vater, der seine Tochter verloren hatte und nicht mit ihrem Tod zurechtkam (die blutigen Details ließ ich selbstverständlich weg). Und dass ich nicht aufhören konnte, mich für das alles verantwortlich zu fühlen.
Carlo hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen und ohne kurze Ratschläge zwischendurch. Als ich fertig war, ließ er sich ein Stück tiefer in seinen Sessel sinken, als würde ein riesiges Gewicht auf ihm lasten. »Das Leben kann verdammt hart sein«, sagte er.
»Das Leben ist beschissen.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Da ist mehr, viel mehr. Ich halte mich zwar nicht für einen unverbesserlichen Optimisten, aber ich habe schon erlebt, wie Schmerz sich letzten Endes als Segen erwiesen hat.«
»Vorsichtig, Professa. Du hörst dich an wie ein Priester.«
»Kann schon sein.« Er schwenkte den Rest seines Weins im Glas und hielt die Nase darüber. »Der Versuch, Not und Elend etwas Positives abzuringen, ist keine ausschließliche Erfindung der Christen. Viktor Frankl, zum Beispiel, hat sich sehr mit dieser Frage beschäftigt. Und ich mag einen Ausspruch, den ich mal gehört habe: In jedem Ding ist ein Riss, und durch diesen Riss kommt das Licht herein.«
Ich deutete auf das Buch in seinem Schoß. »Wittgenstein?«
Er schüttelte den Kopf. »Leonard Cohen.«
Genau wie bei Sigmund, der so viel über mich wusste, wünschte ich mir nun, Carlo alles erzählen zu können. Ich konnte spüren, wie die Worte sich in meiner Brust ausdehnten, und ich musste alle Kraft zusammennehmen, um sie in mir zu behalten. Ich zwang mich zu einem Lächeln und bekreuzigte mich. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Meine letzte Beichte ist fünfundvierzig Jahre her.«
»Tut mir leid, aber als du mich zum Mann genommen hast, hast du zugleich auf die Möglichkeit verzichtet, mich zum Beichtvater zu nehmen. Du musst dir einen anderen Priester suchen.«
»Du bist doch gar kein richtiger Priester mehr, oder?«
Carlos Tonfall änderte sich, nicht zum Ernsten, sondern zum Nachdenklichen hin, als hätte ich ihn an etwas erinnert. »Offen gestanden, doch. Und ich werde immer Priester sein. Wie steht es mit dir, Honey?« Er schaute mich an, um meine Reaktion auf seine Frage zu beobachten. »Kannst du aufhören, Geheimagent zu sein?«
»Wir nennen uns Special Agents, nicht Geheimagenten.«
Er lächelte sanft. »Und? Kannst du aufhören, speziell zu sein?«
Wir wussten beide, wovon er redete, und keiner von uns beiden kannte die Antwort.
Das
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