Der stille Schrei der Toten
zur Linken. In der Mitte des Tellers lag eine exakt gefaltete weiße Leinenserviette und eine dieser Karnevalströten, die sich beim Hineinblasen nach vorne ausrollen.
Ich hörte einen schrecklich tiefen Seufzer, der aber aus meinem Innern kam, und versuchte, mich gegen meine Fesseln zu wehren. Die Augen hielt ich geschlossen – irgendwie hatte ich genug gesehen – und ich bemühte mich mit aller Kraft, nicht in absolute Panik zu versinken. Bleib ruhig, bleib ruhig, schrei jetzt nicht, verlier nicht die Nerven, ermahnte ich mich immer wieder, obschon ich wie versteinert war vor Angst. Wo war Dottie? Was machte sie? Wo war ich? Ich musste versuchen mich zu fassen. Es dauerte ein paar Minuten, aber schließlich gelang es mir, ruhig liegen zu bleiben. Ich öffnete die Augen und schaute mich nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Am Fußende des Betts waren zwei weitere Teller mit blauem chinesischem Muster und einem schrecklich mumifizierten menschlichen Kopf darauf arrangiert. Beide Köpfe hatten lange blonde, zu Zöpfen geflochtene Haare, die aber stellenweise schon ausgefallen waren. Hier und da hatte jemand versucht, sie wieder anzukleben oder mit präziser Kunstfertigkeit anzuklammern. Ein vierter Kopf, der aussah wie der eines Mannes, befand sich rechts neben mir auf dem Bett. Alle Köpfe hatten ein vollständiges Gedeck mit Besteck und einem Scherzartikel vor sich liegen. Neben jedem Kopf lag ein Plastikhut in einer jeweils anderen Farbe. Außerdem hatte jemand einen Stuhl an das Bett herangerückt, mit zwei Tellern davor, einen für mich und einen wahrscheinlich für Dottie.
Oh Jesus, bitte, bitte, hilf mir, dachte ich in meiner Verzweiflung. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, ruhig zu bleiben. Weg von hier, lautete mein einziger Gedanke. Bloß weg. Die Köpfe kümmerten mich nicht, und auch was Dottie mit mir vorhatte oder wo sie war oder wo Harve war, das alles war mir egal. Im Moment war sie weg, und ich musste fliehen, ehe sie wieder zurückkam.
Ich sah mich abermals um und stellte fest, dass es ein sehr kleiner Raum war. Das Bett nahm fast die gesamte Fläche ein, sodass kaum Platz blieb für die Kommode, auf der die Kerzen brannten. Einen Moment lang konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wo ich war; dann fiel mir der alte Wohnwagen in der Scheune ein. Dahin hatte mich also Dottie gebracht. Meine linke Hand war wegen der Wunde nicht gefesselt, und ich versuchte, das Klebeband von meiner rechten Hand zu entfernen. Ich war so schwach, dass ich kaum daran ziehen konnte, aber ich konnte es etwas lockern. Dann unterbrach ich, als ich im Raum nebenan eine Tür gehen hörte. Ich hielt den Atem an.
Dottie kam hereingestürmt und strahlte. Regenwasser tröpfelte von meiner schwarzen Polizei-Regenjacke. Dahin war sie also verschwunden. Sie musste das gute Stück aus meinem Auto gestohlen haben. Ich fragte mich, ob sie damit ihre Opfer bewusst täuschte.
»Du meine Güte, das ist jetzt die reine Sintflut da draußen, und es kommt noch eine ganze Front auf uns zu. Oh, gut, du bist wach. Vermutlich habt ihr euch schon ein wenig bekannt gemacht, während ich weg war?«
Ich sah zu ihr hoch und unterdrückte ein grässliches Schaudern. Sie zog die nasse Jacke aus und kam auf mich zu. »Was macht denn die Schulter, Liebes? Ooooh, das ist ja geschwollen. Ich muss da noch eine Dosis Jod draufgeben.«
Sie kam mit ihrem Gesicht nahe an meines heran, küsste mich auf den Mund und lächelte. »Willst du mich nicht begrüßen?«
»Hi, Dottie«, krächzte ich zwischen spröden, trockenen Lippen hervor.
»Gefällt dir meine kleine Überraschungsparty? Hat auch jeder schön brav Überraschung! gerufen, wie sie es sollten?«
»Ja.« Spiel einfach mit, spiel mit. Sie ist verrückt, droht aber noch nicht damit, mich umzubringen. Ich musste versuchen, Zeit zu gewinnen oder sie dazu überreden, mich loszumachen. »Du weißt doch, wie sehr ich Partys liebe«, sagte ich und rang mir die Karikatur eines Lächelns ab.
Dottie klatschte vor Freude in die Hände. »Oh, Annie, ich wusste, dir würde es hier bei uns gefallen. Du kannst meine Schwester und meine Freundin sein. Ich hab dich schon immer geliebt.«
Ich überlegte mir, wer sie war, und ob sie mich wirklich von früher her kannte, aber ich kannte sie nicht, bevor Harve sie engagiert hatte. Irgendwie musste sie mich in ihre psychotischen Fantasien miteinbezogen haben. Ich sah, wie sie um das Bett herumging und jeden der Köpfe auf den Mund küsste. Mir wurde
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