Der stille Schrei der Toten
aufgetaucht war, wurde doch vieles leichter für ihn. Sie ließ ihn nie über längere Zeit alleine, es sei denn an den Wochenenden, wenn sie sich mit Suze Eggers herumtrieb und Gewichte stemmte und Kajak fuhr, um ihren athletischen Körper einigermaßen in Form zu halten. Ich mochte sie wirklich sehr, und sie war auch meine Freundin.
Als ich es in Kalifornien nicht mehr aushielt, bot Harve mir an, kostenlos in eine Art Fischerhütte zu ziehen, die ihm gehörte und etwa achthundert Meter Uferlinie von seinem Haus entfernt lag. Von seiner Großmutter hatte er ein neun Hektar großes Grundstück in Exklusivlage geerbt, das mittlerweile ein Vermögen wert war, und das er fast so sehr liebte wie Dottie. Über seine Gefühle für sie sprach er nie, vielleicht weil Dottie sie nicht erwiderte. Ihre Beziehung war also rein platonischer Natur, aber ich kannte ihn gut genug und brauchte ihm nur in die Augen zu sehen und wusste Bescheid.
Als ich mich Harves Haus näherte, kam Dottie gerade aus der verglasten Veranda heraus und winkte. Ich bremste ab und ließ das Fenster herunter.
»Hey, Claire! Gleich gibt’s Abendessen! Komm doch rein und erzähl uns etwas über diesen Mord drüben in Cedar Bend.«
Na toll. Es hatte sich also schon herumgesprochen. Das verhieß nichts Gutes. Dann machte es klick! bei mir: unsere gemeinsame Freundin Suze. »Ich weiß nicht so recht, Dot. Ich hab jede Menge Arbeit und obendrein Kopfschmerzen.«
»Ich hab meine Spezial-Lasagne mit extra viel Mozzarella im Ofen. Und gegen deine Kopfschmerzen mach ich dir ’nen Grog.«
Ich zögerte und überließ es erst einmal meinem Magen, auf diese verlockende Aussicht zu reagieren. Italienisch war Dotties Spezialität. Ich stellte mir vor, wie ihre üppige Lasagne in der Form brutzelte, und spätestens in dem Moment knickte ich ein.
»In zehn Minuten bin ich da. Ich will nur noch schnell duschen und mich umziehen.«
Dottie signalisierte ihr Einverständnis und verschwand wieder im Haus. Die Fliegengittertür schlug hinter ihr zu, und ich steuerte mein eigenes Reich an. Dort stieg ich aus und blickte zur Anlegestelle, wo mein kleines Boot vor Anker lag, aber vor meinem geistigen Auge erschienen Fische, die Sylvie Borders übel zugerichtetes Gesicht anknabberten. Ich verdrängte das Bild sofort wieder, wie ich es als Profi gelernt hatte. Ja, dieser Tag war nicht der Brüller, aber was sollte man machen?
Zwanzig Minuten später saß ich frisch geduscht und in einem sauberen T-Shirt, abgeschnittenen Jeans und Sandalen in Harves Esszimmer, vor mir ein Glas von Dotties zu Recht berühmten Grogs, allerdings die kalte Variante mit Eis. Die Rezeptur hatte sie extra für Harve erfunden, um seine Muskelverspannungen zu lindern. Mir half das Gebräu gegen meine Kopfschmerzen, und ich konnte mich dabei besser entspannen als bei irgend sonst einem Getränk. Meine Stimmung verbesserte sich schlagartig in dem Moment, als Harve in seinem motorisierten Rollstuhl hereingerollt kam und mir offen zulächelte.
Mit seinen einundfünfzig Jahren wirkte er überaus athletisch, was damit zusammenhing, dass er ein begeisterter Gewichtheber war und sich ja täglich in seinen Stuhl hinein- und wieder herauswuchten musste. Obwohl er mit seinem Körper von der Hüfte an abwärts nichts anfangen konnte, hatte ich nie auch nur ein Wort der Klage von ihm gehört. Er sah gut aus und hatte markante Gesichtszüge. Seine Augen und die Haare hatten dieselbe stahlgraue Farbe. Gewiss half er mir mit seiner stets positiven Art, mein Leben zu meistern. Er war mein bester Freund auf der ganzen Welt. »War ja wieder mal ein netter Tag für dich, nicht wahr?« Harve positionierte seinen Stuhl an der Stirnseite des Tischs.
»Das kannst du laut sagen.« Ich verteilte das Besteck auf dem Tisch und musste sofort wieder an Sylvie denken; also griff ich beherzt zur Salatzange und kippte Dotties selbst gemachtes Parmesan-Dressing – ein Spezialrezept – über das bereitstehende Grünzeug. Sie machte die besten Salatsaucen diesseits von New York City, und ich steckte eine Gurkenscheibe in den Mund. Mein Magen war sauer auf mich, weil ich den ganzen Tag über nichts gegessen hatte. Manchmal konnte mich mein Magen auf den Tod nicht ausstehen.
Harve sagte: »Ich habe dich gehört, als du schon kurz vor Tagesanbruch losgebraust bist. Das ist nie ein gutes Zeichen.«
Harve stand sehr früh auf, manchmal schon um vier. Er liebte die ruhigen Morgenstunden und nutzte sie gerne für seine Arbeit. Er baute
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