Der stille Schrei der Toten
während einer Obduktion ein abgetrennter Kopf selbstständig macht, das hatte ich noch nie erlebt. Ich bemühte mich um Professionalität, versuchte, wie ein abgehärteter Profi mit der Situation umzugehen. Der Kopf wies keinerlei Blutspuren auf. Offenbar war sie unter Wasser ausgeblutet.
Ich sah wortlos zu, wie Buckeye und Bud gemeinsam den kopflosen Körper auf den Tisch beförderten und ihn direkt unter dem abgetrennten Kopf dort ablegten. Ich starrte auf das Brusttattoo, die Fee Naseweis aus Peter Pan, und dachte unwillkürlich an das Gänseblümchen-Tattoo. Mit einem Mal kam mir alles so unwirklich vor. Wieder musste ich an Black denken. Warum kehrten meine Gedanken eigentlich immer wieder zu ihm zurück?
Dabei sah ich in ihm gar nicht so sehr den mutmaßlichen Mörder, sondern vielmehr jemanden, der das Opfer geliebt hatte. Jedenfalls schienen mir seine Gefühle dem Mädchen gegenüber echt zu sein. Aber das schloss nicht aus, dass er sie dennoch ermordet haben könnte. Siehe O. J. Simpson und seine Exfrau Nicole. Ich fragte mich, ob Sylvie noch am Leben war, als der Mörder sie enthauptete; dann wünschte ich, ich hätte mir die Frage nicht gestellt.
»Ich geh kurz Luft schnappen«, sagte ich. »Nur eine Minute.«
»Okay«, sagte Buckeye. »Schalt die Kamera ab, Shag.«
Ich ging quer durch den Raum an einen Ausguss, nahm meinen Mundschutz ab und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich hatte noch niemals zuvor eine Obduktion unterbrochen, und eigentlich war mir auch nicht schlecht. Schuld war eher das blanke Entsetzen, das mich befallen hatte. Sylvie war so wahnsinnig jung gewesen. Sicher war sie wohl auch kein Unschuldslamm gewesen, aber so ein Ende hatte sie bestimmt nicht verdient.
»Alles okay?«, fragte Bud einen Moment später.
»Ja. Lass uns die Sache hinter uns bringen.«
Was noch folgte, war weniger dramatisch, sondern nur mehr traurige Routine. Buckeye registrierte jeden Bluterguss und jede Abschürfung, wog die inneren Organe und entnahm Gewebe-und Blutproben für das Labor. All das war nötig und wichtig für die Auffindung des Killers, mir jedoch ging es dabei kein Jota besser. Für den Rest meines Lebens würde ich nie wieder eine Seifenoper im Fernsehen sehen können, ohne dabei Sylvie Borders Kopf vor Augen zu haben, wie er sich von ihrem Körper löste. Leider würde es mir zufallen, Nicholas Black darüber zu informieren. Ob ich aber wollte oder nicht, für mich war es wichtig, zu sehen, wie er darauf reagierte.
Leben mit Vater
In den ersten paar Monaten hatte das Kind Angst vor den Toten in dem kalten Kellerraum. Der Vater sagte, sie würden niemandem etwas zuleide tun, und dass es schön sei für Kinder, die Mutter zu besuchen. Der Vater hatte im Kühlraum ein bequemes Liegebett für die Mutter aufgestellt, anstatt sie in einem der Stahlregale an der Wand zu lagern, in denen die anderen Leichen in Plastik eingehüllt lagen. Manchmal legte sich Blage neben sie und deckte sich und die Mutter mit einer Decke zu. Ab und an brachte Blage ihr auch rote Rosen und andere Blumen und stellte sie in einer Colaflaschenvase neben das Bett, aber es war zu kalt in dem Raum, und die Blüten vertrockneten regelmäßig und wurden schwarz.
Im Laufe der Zeit legte sich die Angst des Kindes vor den Toten. Da es sich in dem großen Haus alleine ohne die Mutter einsam fühlte, verbrachte Blage immer mehr Zeit im Kühlraum mit der Mutter und ihren Freunden. Der Balsamierer ließ die Kellertür nun unverschlossen und schien erfreut darüber, dass das Kind ihm gerne bei der Arbeit zusah. Er übernahm die Unterrichtsstunden, die die Mutter dem Kind immer erteilt hatte, und er brachte Blages rote Winterjacke und die grüne Pudelmütze nach unten und hing sie vor dem Kühlraum an Haken auf. Außerdem riet er Blage, immer Handschuhe zu tragen, wenn es die Mutter besuchte.
Am glücklichsten war Blage aber noch immer bei seiner Mutter. Sie machte nun einen ganz friedlichen, überhaupt nicht traurigen Eindruck, und der Vater ging milde und respektvoll mit ihr um, wenn er bei ihr vorbeischaute. Blage gewöhnte es sich allmählich an, die Toten als seine Freunde zu betrachten. Wenn die schwere Stahltür zum Kühlraum geschlossen war, unterhielt sich das Kind mit ihnen. Blage las, was auf den Papierschildchen stand, die am großen Zeh der Toten befestigt waren. Dann nannte es sie beim Namen und reimte sich Geschichten darüber zusammen, wo sie lebten und wie ihre Familie aussah. Mit der Zeit gewöhnten sie
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