Der stille Schrei der Toten
einzigen Schluck. Als er zu seinem Glas griff, war ich froh, dass er es nicht kennerhaft schwenkte und erst einmal die Nase dranhielt, ehe er trank. Dieses Theater hielt ich für ziemlich affektiert, aber ich war ja auch eine Landpomeranze. Er sagte: »Ich glaube, ich brauche erst einmal ein paar Gläser Champagner, ehe ich mir diese Bilder ansehe.«
»Sie müssen nicht, wenn Sie nicht wollen. Nun weiß ich ja, wie nahe Sie Sylvie standen. Sollten Sie sich anders entschlossen haben, hätte ich dafür volles Verständnis, glauben Sie mir.«
»Haben Sie so was schon mal erlebt?«
Das hatte ich, und er spielte genau darauf an, aber er würde nichts darüber erfahren. »Ich hatte öfter mit Angehörigen von Mordopfern zu tun. Immer eine schwierige Angelegenheit. Glücklicherweise bleiben die meisten davon verschont, sich Bilder vom Tatort oder der Obduktion ansehen zu müssen.«
»Ich muss sie mir ein zweites Mal ansehen, und zwar sehr genau, aber mir wäre es bei Gott lieber, der Kelch ginge an mir vorüber. Ich habe mich den ganzen Tag darauf vorbereitet.« Er lehrte sein Glas, goss aber nicht nach. »Haben Sie Charlie von meinem Bruder erzählt?«
Die Frage kam überraschend, aber früher oder später hatte ich damit gerechnet. Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe doch gesagt, nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, und ich halte mein Wort. Sollte ich im Verlauf der Ermittlungen damit herausrücken müssen, werde ich nicht zögern, Ihre verwandtschaftlichen Beziehungen offenzulegen. Dafür haben Sie doch Verständnis, oder?«
Er nickte. »Danke. Es würde mein Leben nur unnötig komplizieren und viele Menschen auf unvorstellbare Weise verletzen.«
Ich ersparte mir einen Kommentar. Was sollte ich dazu auch sagen? Es war sein bestgehütetes Geheimnis. Ich selbst hatte auch ein paar, die nie ans Tageslicht kommen dürften. Natürlich konnte ich ihm entgegenkommen, solange mein Job dies zuließ.
»Haben Sie die Unterlagen zur Hand? Ich würde am liebsten gleich anfangen, denn eine Weile wird es sicher dauern.«
Ich hatte die Fotos und Berichte vom Tatort in einem Umschlag in einer Schublade verschlossen im Haus liegen. Ich holte sie und gab sie ihm. Er sah einige Minuten lang auf den See hinaus, holte tief Luft und zog die Bilder heraus. Er sah sie nacheinander sorgfältig an, wobei er jedes Blatt akribisch studierte. Es tat fast weh, zu sehen, wie ihn der Anblick jedes einzelnen Fotos wie ein körperlicher Schlag traf. Als er fertig war, atmete er lange aus, um mich dann anzusehen. »Einen Moment bitte noch, ja?« Die in dieser Bitte mitschwingende Betroffenheit war spürbar.
Wortlos stand ich auf und ging ins Haus zurück. Er hatte sich grauenvolle Fotos ansehen müssen, Fotos von einem geliebten Menschen, einem Menschen, den er von Kindesbeinen an als Onkel geliebt hatte. Was für eine schreckliche Pflicht. Ich war mir nicht sicher, ob ich an seiner Stelle dazu in der Lage gewesen wäre, noch dazu zu diesem frühen Zeitpunkt. Mein Handy klingelte, und ich nahm das Gespräch an, während ich Black nachdenklich am Picknicktisch sitzen sah. Die Tatortfotos lagen umgekehrt vor ihm. Er saß reglos da und starrte auf die grüne Seeoberfläche hinter der Glaswand.
»Claire? Ich bin’s.«
»Hey, Buckeye. Was gibt’s?« Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er nur anrief, wenn es schlechte Nachrichten gab.
Kein Gerichtsmediziner rief einen Detective von der Mordkommission jemals mit guten Nachrichten zu Hause an. Ich wappnete mich. Black sah noch immer auf den See hinaus.
»Schlechte Nachrichten«, sagte er.
»Schieß los.« Ich war gespannt und darauf vorbereitet, mit Neuigkeiten konfrontiert zu werden, die den Fall komplizieren würden. Mein sechster Sinn war hellwach.
»Die Ergebnisse des DNA-Vergleichs zwischen Sylvie Border und ihrem Vater liegen vor. Damit und mit Hilfe der beiden Tattoos ist die Tote eindeutig identifiziert.«
Ich runzelte die Stirn. »Ja, und?«
»Ja, aber ich habe auch ihren Zahnstatus aus New Orleans bekommen.« Buckeye stockte, und mir stockte der Atem. »Die Befunde decken sich nicht.« Er hielt abermals inne. »Der Kopf stammt nicht von ihrem Körper, Claire. Er gehört jemand anderem, was durch den DNA-Vergleich bestätigt wird.«
Ich war so geschockt, dass ich mich setzen musste. Ich starrte zum Fenster hinaus zu Black. Oh Gott, nun würde ich ihm das auch noch sagen müssen.
»Claire? Hast du das mitbekommen? Hast du mich verstanden? Ich wusste bereits, dass der
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