Der stolze Orinoco
des Obersten, der in Frankreich eingetroffen ist, einen Brief, der an einen seiner Freunde in Nantes gerichtet war und als Unterschrift seinen Namen trug.
– Und Sie sagen, liebes Kind, fuhr der Gouverneur fort, daß der Oberst von Kermor vor einigen Jahren in San-Fernando geweilt habe?
– Daran ist kaum zu zweifeln; sein Brief war vom 12. April 1879 datiert.
– Das nimmt mich wunder!
– Warum denn, Herr Gouverneur?
– Weil ich mich zu jener Zeit als Gouverneur selbst in genanntem Orte befand, und wenn ein Fremder, wie der Oberst von Kermor, dort aufgetaucht wäre, würde mir das ohne Zweifel gemeldet worden sein. Ich erinnere mich dessen aber nicht… nicht im geringsten!«
Diese so bestimmte Aussage des Gouverneurs schien auf den jungen Mann einen tiefen Eindruck zu machen. Sein Gesicht, das im Laufe des Gesprächs einen lebhafteren Ausdruck angenommen hatte, verlor die gewöhnliche Färbung. Er erbleichte, seine Augen wurden feucht und er mußte alle Willenskraft zusammennehmen, um sich aufrecht zu erhalten.
»Ich danke Ihnen, Herr Gouverneur, sagte er, ich danke Ihnen für die Theilnahme, die wir, mein Onkel und ich, bei Ihnen finden. So gewiß Sie sich aber auch sein mögen, nie etwas vom Oberst von Kermor gehört zu haben, steht es dennoch fest, daß dieser sich in San-Fernando aufgehalten hat, denn von da aus kam der letzte Brief, den man in Frankreich von ihm erhielt.
– Und was hatte er in San-Fernando vor?« fiel jetzt Herr Miguel mit einer Frage ein, die der Gouverneur noch nicht gestellt hatte.
Sie brachte dem ehrenwerthen Mitgliede der geographischen Gesellschaft einen vernichtenden Blick vom Sergeanten Martial ein, der zwischen den Zähnen murmelte:
»Muß der sich denn auch noch einmischen?… Der Gouverneur… na, meinetwegen, doch dieser Philister…«
Jean zögerte indeß gar nicht, auch dem »Philister« Antwort zu geben.
»Was der Oberst dort beabsichtigte, mein Herr, das weiß ich selbst nicht, das ist ein Geheimniß, das wir enthüllen werden, wenn es Gott gefällt, uns ihn finden zu lassen…
– In welchem Verhältniß stehen Sie zu dem Oberst von Kermor? fragte noch der Gouverneur.
– Er ist mein Vater, erklärte Jean, und ich bin nach Venezuela gekommen, um meinen Vater zu suchen!«
Fünftes Capitel.
Die »Mariepare« und die »Gallinetta«.
Eine Ortschaft, die sich in dem Winkel eines Stromes hätte ansiedeln wollen würde Caïcara um seine Lage beneiden müssen. Es liegt da wie ein Gasthaus an einer Straßenbiegung oder vielmehr an einem Kreuzwege, was sein Emporblühen, selbst vierhundert Kilometer vom Orinoco-Delta, vorzüglich begünstigt hat.
Caïcara erfreut sich auch herrlichen Gedeihens, Dank der Nachbarschaft eines großen Nebenflusses, des Apure, der stromaufwärts den Handelsverkehr Columbias und Venezuelas vermittelt.
Der »Simon Bolivar« hatte den Stromhafen erst gegen neun Uhr abends erreicht. Nachdem er Las Bonitas um ein Uhr mittags verlassen, dann nacheinander an dem Rio Cuchivero, am Manipare und an der Insel Taruma vorübergekommen war, hatte er seine Passagiere am Quai von Caïcara ans Land gesetzt.
Von den Passagieren natürlich nur die, die der Dampfer nicht auf dem Apure nach San-Fernando oder Nutrias weiter befördern sollte.
Das Geographenkleeblatt, der Sergeant Martial mit Jean von Kermor und eine kleine Anzahl andrer Reisender gehörten zu den letzteren. Am nächsten Morgen sollte der »Simon Bolivar« schon mit Tagesanbruch wieder abgehen, um den bedeutenden Zufluß des Orinoco bis zum Fuße der columbischen Anden hinauszufahren.
Herr Miguel hatte nicht verfehlt, seine beiden Freunde mit dem, was er aus dem Gespräche des Gouverneurs mit dem jungen Manne erfahren hatte, bekannt zu machen. Beide wußten nun also, daß Jean unter dem Schutze des alten Soldaten, des Sergeanten Martial, der sich seinen Onkel nannte, zur Aufsuchung seines Vaters auszog. Vor vierzehn Jahren hatte der Oberst von Kermor Frankreich verlassen und sich nach Venezuela begeben. Aus welchem Grunde er dem Vaterlande den Rücken gekehrt habe und was er in diesem weltfernen Lande treibe, das würde ihnen die Zukunft vielleicht noch entschleiern. Zur Zeit ergab sich nur als gewiß, aus dem von ihm an einen Freund gerichteten Schreiben, – einem Briefe, der erst viele Jahre nach seinem Eintreffen bekannt wurde – daß der Oberst im April 1879 durch San-Fernando gekommen war, als der Gouverneur des Caura damals seinen Sitz in genanntem Orte hatte.
Jean von Kermor
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